Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (20. September 2020)
 
Pizzagrosse Tellermützen
 

Dinge der Woche: Im Südwesten findet an den Schulen der grösste Luftaustausch der Geschichte statt. Und im Osten Europas geht derweil die Welt von gestern unter.

   An den Schulen im Südwesten wurden zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Fenster geöffnet - offen ist bisher, ob der festgebackene Mechanismus es zulässt, sie irgendwann wieder zu schliessen. Es duftet nach Hygienemitteln in den Varianten Zeder-Moschus-Diesel und Muskat-Mandel-Schweinemast. Selbst jene unentdeckten Abstellkammern, in denen die AG Theater, Bühnenbild und Origami aus dem Jahr 1998 ihre nie bewerteten Arbeiten lagerten, wurden ausgeräumt und boten faszinierende Einblicke in den Prozess der Materialzersetzung unter Laborbedingungen. Die Emissionen zahlloser Nachmittagsstunden in Latein und Physik wurde nach Jahren ins Freie abgeleitet und lösten in verschiedenen Städten Feinstaubalarm aus. Alles war vorbereitet für die ersten Kolonnen der Corona-Schüler. Die näherten sich im fahlen Morgenlicht, gähnten in ihre Masken und kommunizierten digital untereinander. Das bewährte Prinzip des "Weiter so" schien noch einmal aufzuleben.



   Ganz anders in Osteuropa. Wo einst Birkenwälder, Quecksilberflüsse und Weltkriegsdenkmale die ästhetische Grundierung des Alltags bildeten, fanden sich Menschen zusammen, denen der Spät-Sozialismus offenbar nichts mehr bedeutet. Sie haben irgendwie keine Lust mehr, in einem metallurgischen Staatskomplex als Best-Arbeiter prämiert zu werden und die Belohnung in Wodka umzusetzen.

   Der vierschrötige Machthaber mit Schnauzbart, der sich immer auf seine Mischung aus Volksnähe und Bruitalität verlassen konnte, schien ratlos. Er hatte seine beste gebügelte Tarnuniform aus altsowjetischen Zeiten angelegt und die Kalaschnikow emporgereckt. Hinter ihm stand, wie ein treues Eisenschwein, der Regierungshubschrauber Mil-mi-24. Doch die Ikonographie der Macht löste nur Spott und Verachtung aus.

   Seine Militärs fürchteten sich um ihre Spielplätze, um die Paraden mit Raketen, Haubitzen und marschierenden Rekruten. Die Tellermützen, gross wie eine Pizza familiale vom Kaufland, würde von der Bildfläche verschwinden und die blanken Schädel der Offiziere den Strahlen maroder Atomkraftwerke aussetzen. Die Ordenstapeten auf der Brust wären Stückgut für die Flohmärkte.

   Soll man Zugeständnisse machen? Den Oppositionellen doch einige Wählerstimmen mehr schenken als ursprünglich geplant? Die Wahlzettel wären schnell neu ausgefüllt. Sonderrationen von Dauerwurst und Trockenobst noch aus erbeuteten Wehrmachtsbeständen könnten die Stimmung im Volk ebenfalls heben. Dazu ein paar neue Feiertage ("Tag der hingebungsvollen Hausfrau", "Tag des ersten Ferngesprächs" oder "Tag des unbekannten Traktoristen") - und alles könnte doch wieder sein wie früher.



   Doch wie früher wird wohl nichts mehr. Pandemie und Freiheitssehnsüchte schütteln die Welt von gestern durch. Und jene Schüler, die ihren Deutschunterricht nicht komplett verdämmert hatten, tippen gedankenverloren die Zeilen eines berühmten Brecht-Gedichts in ihr Tablet.

   "Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne / Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. / Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne. / Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt."
 

 

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