Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (31. Mai 2020)
 
Ein Land wippt sich aus der Krise
 

Dinge der Woche: Deutschland findet langsam wieder in den Normalbtrieb und kann entspannt in die Vergangenheit schauen. In dieser Disziplin macht uns niemand etwas vor.

   Deutschland erholt sich von der Corona-Pandemie und lässt Masken und Hemmungen fallen. Die Debatte darüber, ob die Zustände an den Schulen oder in den Schlachthöfen schlimmer sind, flaut ab. Bilder zeigen eindeutig, dass die meisten Schweinehälften den geforderten Mindestabstand einhalten, hiess es. Und an den Schulen geht es ohnehin mächtig voran. Kommunalpolitiker weihen im Akkord neue Sanitäreinrichtungen ein. Endlich müssen die Schüler nicht mehr bei den Nachbarn klingeln, wenn sie auf die Toilette müssen. Zwar hatten sich viele Handwerker aus hygienischen Gründen geweigert, die Lehranstalten zu betreten. Doch rumänische Leichtlöhner, die man aus den Schlachthöfen abkommandierte, stellten die nötigen Anschlüsse rasch her und konnten sich danach endlich auch die Hände waschen.



   Weil damit die drängendsten Probleme des Landes gelöst sind, kann sich das Volk den Wunsch erfüllen, wieder in die Normalität der Vor-Corona-Zeit, wenn nicht sogar in das Idyll versunkener Jahrzehnte zurückzukehren. In eine Zeit also, in der man bedenkenlos Fleisch verzehren konnte, Epidemien grundsätzlich im Ausland standfanden und die Mutter das Mittagessen kochte, ohne zugleich auf dem Laptop zu tippen. Jetzt trug die Politik solchen Sehnsüchten endlich Rechnung und beschloss den Bau einer sogenannten Einheitswippe in Berlin. Mit diesem gewaltigen Monument werde man weltweit Massstäbe setzen, heisst es. Niemand auf der ganzen Welt habe so etwas. Auf der Wippe erfahre man die ganze Wellenbewegung der deutschen Geschichte und könne währenddessen eine vegane Wurst essen. Zehn Minuten Geschichtsschaukeln sollten offenbar nicht mehr als 2,50 Euro kosten, womit die Einheitswippe auch für sozial schwache Familien erschwinglich wäre. Weitere Wippen und Schaukeln sollen den Lahmen und Blinden, den Gastronomen und Virologen, Einzelhändlern und Friseuren gewidmet werden. Ein gewaltiges Planschbecken mit Matschgelegenheit wird an die Heldenmütter der Corona-Krise erinnern.

   Damit festige das Land seinen Spitzenplatz in der Gedenkkultur, heisst es in Berlin. Andere Länder verharrten in der überkommenen Ästhetik von Reiterstatuen, Obelisken, Sarkophagen, Triumpfbögen, Kathedralen oder Hauptpostämtern, die wie Kathedralen aussehen. Deutschlands Riesenwippe stellt sie alle in den Schatten der Geschichte. Ein kleiner Wermutstropfen war indes die Ankündigung des Wirtschaftsministers, er werde die Schaukel als Erster besteigen. Einige der beteiligten Statiker und Ingenieure versuchten daraufhin, Suizid zu begehen.



   Deutschland wird sich demnächst in eine Trance wippen. ähnlich jener Entrückung, die man bei dem Konsum halblegaler Rauchwaren, dem Rausschauen auf das Meer oder dem Betrachten einer Fliege im Honigglas empfindet. Extremismus, Jobverlust und hoher Blutdruck werden ein für alle Mal aus dem Bewusstsein hinausgewippt. Ein dunkles Wetterleuchten am Horizont -  Vorbote künftiger Verteilungskämpfe - könnte ratzfatz ausgeblendet werden, heisst es. Man müsse nur auf die andere Seite rüberrutschen und in die Vergangenheit blicken - dort sei das Wetter immer schön.
 

 

Zurück