Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (22. März 2020)
 
Die Apokalypse kann warten
 

   Viele meinen ja, man könne durch ausgedehnte Telefonate mit den Liebsten diese coronöse Krise besser meistern. Doch nach dem letzten Gespräch mit einer nahen Verwandten sind Zweifel angebracht. Die Dame am anderen Ende der Leitung ist älteren Jahrgangs, streng gottgläubig und leider Hobby-Apokalyptikerin. Hobby-Apokalyptiker sind geübte Wortverdreher und Faktenvernichter. Ihr täglich Brot sind dunkle Vorahnungen, abstruse Verschwörungstheorien und Breaking News direkt aus der Hölle. Dieses nervende Virus kommt denen wie gerufen. Da helfen dann auch keine Statistiken mehr, keine halb wissenschaftlichen Kurzvorträge über abgeflachte Kurven bei Neuinfektionen. Nein, am Ende bleibt einem nur noch der Satz im heissen Ohr kleben: "Junge, lass dir nichts vormachen. Es ist hoffnungslos. Corona, das ist die Strafe Gottes." Und aufgelegt. Prima. Telefonieren ist auch keine Lösung.



   Was jetzt? Auf der verzweifelten Suche nach Trost und Lebenssinn landet man schliesslich, selbst als Ungläubiger, bei den üblichen Verdächtigen. Man legt in seinem Homeoffice-Kerker Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion auf den Plattenteller und dreht bei der Arie Nr. 47 etwas lauter auf: "Erbarme dich, mein Gott." Wunderschön war's. Man schaut bekümmert aus dem ungeputzten Fenster, blickt auf irgendeine Strasse im Stuttgarter Osten, hört nur in der Ferne einen Laubbläser blöken. Die Uhr im Turm der Friedenskirche zeigt eine falsche Zeit an, aber welche Uhrzeit ist in diesen Tagen schon die richtige? Fünf vor zwölf? Dann denkt man bei sich, dass 1944 die Friedenskirche bis auf den Turm mit seinen fein gearbeiteten Apostelfiguren abgebrannt ist, der sich immer noch in den wolkenlosen Himmel streckt, wie zum Trotze. Es gibt noch Hoffnung, wir schaffen das schon irgendwie.

   Also macht man Dinge, die einem guttun: Möglichst vor dem Schreiben dieser Kolumne keine abgründigen Telefonate mit seltsamen Verwandten führen. Dafür ausgiebig das Wetter studieren. Tauben auf dem Nachbardach bei der Paarung zusehen. Die Haare wachsen lassen. Alle Spiegel verhängen. Sein Testament aufsetzen. Staubmäuse jagen. Dreieinhalb Liegestützen schaffen. Einen Knopf annähen und andere Handarbeiten inkompetent erledigen. Schuhe putzen. Einen Reste-Eintopf kochen. Zu Hause auch mal in einer Badehose rumlaufen. Jeden Tag ein Gedicht auswendig lernen und wieder vergessen. Mal hinter den Schrank nachschauen und sich gruseln. Sich von Virologen die Welt erklären lassen. Noch einmal Bach hören.



   Und Klopapier besorgen, ganz wichtig, und zuhause zum bisherigen Stapel einsortieren. Deswegen geht man frohgemut mit seinem FFP3-Munddeckel hinaus in die ansteckende Welt, kommt aber nicht weit. Kaum vor der Tür, wird man schon von einer mit einem Tuch maskierten Frau gestellt, die völlig aufgebracht ist. "Woher haben Sie die Maske?", fragt sie scharf. Ein Überbleibsel von der letzten Renovierung, lautet die beschwichtigende Antwort. Sie entschuldigt sich für ihren Tonfall und erklärt, dass sie mit den Nerven am Ende sei, weil sie als Altenpflegerin auf Schutzkleidung angewiesen sei, aber keine zur Verfügung stünde. Und ständig höre man, dass sich irgendwelche Unmenschen am Leid anderer bereicherten, Masken horteten, im Internet für Wucherpreise weiterverkauften. Ein Skandel, ruft sie.

   Vier Masken bräuchte sie mindestens an einem Tag, sie selbst gehöre nach einer überstandenen schweren Rückenoperation im Winter ohnehin zu den Risikogruppen. Sie mache aber ihre Arbeit immer noch gern, trotz Corona. Dann geht die forsche Dame weiter ihres Weges, zum nächsten Hilfsbedürftigen, und das ohne Maske. Das sin mal echte Probleme. Und genau wegen solcher Leute gibt es immer noch Hoffnung. Die Apokalypse muss noch warten.
 

 

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