Wahlanalyse: Wir müssen den Menschen im Osten
endlich zuhören, sagt die Politik. Notfalls, bis der Arzt kommt.
Für die Betroffenen ist das aber kein Zuckerschlecken.

Wer
sich diese Woche melancholisch im Nacken kratzte und hinauf
in den herbstlichen Himmel schaute, sah Scharen von Zugvögeln
über sich hinwegziehen. Wildgänse und Graureiher kamen aus dem
Land im Osten - dem Land, das immer neue Rätsel aufgibt. Dort
gären offenbar Wut und Sauerkraut in den Gaststuben, Rentner
schauen aus ihren Fenstern in die Vergangenheit und einmal am
Tag hält der Bus.
Noch hingen die Grillschwaden
in der Luft, die volksnahe Politiker aufsteigen liessen, um
eine Bratwurst lang mit dem Wähler in Kontakt zu kommen. Doch
auch dieses kulinarische Golgatha erzeugte keinen Wahlerfolg,
sondern nur hohe Cholesterinwerte. Ein hektisches Suchen setzt
ein - nach Ursachen, Hinweisen, Handreichungen. Entgegen der
Vogelflugroute machen sich Heerscharen von Soziologen, Ethnologen,
Archäologen, Psychologen und Gerontologen auf den abenteuerlichen
Weg in den Osten, um die beunruhigenden Wählerwanderungen analytisch
zu erfassen. Sie pirschen sich im Dunkel der Nacht an die Eckkneipen
heran, suchen an der Käsetheke das zwanglose Gespräch, lassen
sich in die Spinde der Werkstätigen einschliessen und liegen
unter den Betten privater Schlafzimmer.
Von
den meisten fehlt seitdem jede Spur, doch Konsequenzen - eindeutige
und klare - müssen natürlich gezogen werden. Man werde den Menschen
jetzt zuhören, heisst es. Für den Berufspolitiker ist das eine
schier unlösbare Aufgabe. Er muss, anders als in einer TV-Runde
unter Gleichgesinnten, minutenlang nichts, also wirklich nichts
sagen, während sein Gegenüber klagt, lamentiert, selbstmitleidig
vor sich hin brabbelt und verfassungsfeindliche Ideen aufblitzen
lässt. Für Politiker der späten Bosbach-Altmaier-Schule eine
abscheuliche Zumutung. Wie gerne würden sie die Satzfragmente
ihres Kontrahenten mit zwei Sätzen zersägen und ins Lächerliche
ziehen - stattdessen müssen sie zuhören, bis der Arzt kommt.
Viele sind erschöpfter als nach einem zweitägigen Parteitag
mit Führungsintrige. Sie leiden unter Weinkrämpfen, Desorientierung,
Sprechblockaden, Depressionen und vollständiger Ermattung.

Aber
es hilft nichts. Auf die Bürger in den östlichen Landesteilen
rollt die totale Verständigungsoffensive zu. Jeder Wutbürger
zwischen Gera und Neuruppin wird gehört, bis ihm Hören und Sehen
vergeht. Er darf über schlechte Strassen, lahmes Internet, Dürre
und fehlende Frauen klagen und die Politik sagt sofortige Hilfe
zu, verspricht, den einen und anderen Kreisverkehr zu bauen,
verteilt Gutscheine für schnelles Internet, die im Jahr 2033
oder auch nicht eingelöst werden können, und lässt einen Aufsitzrasenmäher
aus der Luft abwerfen. Viele Gemeinden sind, nachdem sie zwei-
bis dreimal überrollt wurden, nicht mehr wiederzuerkennen. In
den Gesichtern der Bewohner stehen Angst und Erschöpfung.
Doch
die Brechstange der Zuwendung zeitige Wirkung. Fast alle Bürger
in den heimgesuchten Gemeinden versprachen, wieder ins Reich
der Altparteien zurückzukehren. Aber nur unter der Bedingung,
dass sich künftig kein Altpolitiker mehr in ihrem Dorf blicken
lässt.
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