Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (25. August 2019)
 
Deutsch für Eingeweide
 

Arztbriefe sind weitgehend unverständlich. Andererseits sehen Ärzte auch das Gute im Menschen, zum Beispiel positive Darmgeräusche "über alle vier Quadranten".



   Es ist kurz vor sechs am Morgen, der Wecker meiner Frau hat gerade geklingelt. Eigentlich müsste sie jetzt aufstehen, aber in Ungarn, wo sie herkommt, haben Zeitangaben eine etwas andere Bedeutung. Wenn meine Frau zum Beispiel sagt, dass sie "jetzt" das Haus verlassen werde, dann lackiert sie noch mindestens fünf Minuten lang am Esstisch ihre Fingernägel. Ich nenne dies gerne etwas spöttisch das "ungarische Jetzt".

   Statt meiner Frau bin früher übrigens ich aufgestanden, wenn ihr Wecker geklingelt hat. Aber im Laufe eines langen Ehelebens nimmt man viele Eigenschaften des anderen an. Mittlerweise bleibe auch ich noch liegen, kuschele mich an ihren Rücken und strecke dazu einen Fuss ins kühle "Gräbele", so wie sie es auch gerne tut.

   Das ist der perfekte Moment, besser wird es heute nicht mehr werden. Ich muss an den Arztbrief denken, den mir der Ärztliche Direktor Soundso nach meinem letzten Krankenhaus-Aufenthalt mitgegeben hat. Neben unschönen oder unverständlichen Dingen war da eine Formulierung drin, die zeigt, dass Ärzte auch das Gute im Menschen sehen. Die allgemeine körperliche Untersuchung ergab nämlich bei mir folgenden Befund: "Darmgeräusche positiv, über alle vier Quadranten". Das klingt so, wie ich mich gerade fühle, nämlich rundum wohl.

   Der Begriff "jetzt" grosszügig auszulegen, ist übrigens keine ungarische Spezialität. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte in seiner Ausgabe diese Woche einen Bericht über die Sprache in Arztbriefen drin. Man könnte ja meinen, dass wenigstens die Hausärzte das verstehen, was die Kollegen in den Krankenhäusern ihnen schreiben. Genau das sei aber oft nicht der Fall, so der "Spiegel", dies habe "jetzt" eine Studie der Heinrich-Heine-Universität gezeigt.

   Nun wollen wir die armen Kollegen vom "Spiegel" nicht noch mehr piesacken, kämpfen sie doch schon seit Monaten mit dem Problem, dass einer der ihren Reportagen erfunden hat, und neuerdings auch mit der Tatsache, dass sich nicht alle SPD-Hierarchen an eine Telefonschalte erinnern, über die das Nachrichtenmagazin exklusiv berichtete.



   Aber darauf hinweisen wird man müssen, dass die Ergebnisse der Studie nicht "jetzt" vorliegen, sondern schon seit Monaten. Im April berichtete bereits die Nachrichtenagentur dpa darüber, dass von den 197 befragten Hausärzten fast alle (98,5 Prozent) angaben, schon einmal Arztbriefe erhalten zu haben, die sie nicht auf Anhieb verstehen konnten. Aber gut, sehen wir es menschlich: Auch beim "Spiegel" bleibt man nach dem Klingeln gerne noch ein bisschen liegen oder lackiert sich die Fingernägel. Und wer das Thema nicht googelt, merkt von dem Ganzen sowieso nichts.

   Während ich mich morgens an meine Frau kuschle, denke ich ohnehin nur positiv. Laut ärztlichem Befund habe ich zum Beispiel auch "keine latenten oder manifesten Paresen". Das klingt doch gut, auch wenn nur Eingeweihte verstehen, was damit gemeint ist. Wenn eine Stimme in mir in solchen Momenten von mir fordert, darüber einen Artikel zu schreiben, geht mir das normalerweise an allen vier Quadranten vorbei. Nur gut, dass ich doch noch aufgestanden bin.
 

 

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