Arztbriefe sind weitgehend unverständlich.
Andererseits sehen Ärzte auch das Gute im Menschen, zum Beispiel
positive Darmgeräusche "über alle vier Quadranten".

Es
ist kurz vor sechs am Morgen, der Wecker meiner Frau hat gerade
geklingelt. Eigentlich müsste sie jetzt aufstehen, aber in Ungarn,
wo sie herkommt, haben Zeitangaben eine etwas andere Bedeutung.
Wenn meine Frau zum Beispiel sagt, dass sie "jetzt"
das Haus verlassen werde, dann lackiert sie noch mindestens
fünf Minuten lang am Esstisch ihre Fingernägel. Ich nenne dies
gerne etwas spöttisch das "ungarische Jetzt".
Statt
meiner Frau bin früher übrigens ich aufgestanden, wenn ihr Wecker
geklingelt hat. Aber im Laufe eines langen Ehelebens nimmt man
viele Eigenschaften des anderen an. Mittlerweise bleibe auch
ich noch liegen, kuschele mich an ihren Rücken und strecke dazu
einen Fuss ins kühle "Gräbele", so wie sie es auch
gerne tut.
Das ist der perfekte Moment,
besser wird es heute nicht mehr werden. Ich muss an den Arztbrief
denken, den mir der Ärztliche Direktor Soundso nach meinem letzten
Krankenhaus-Aufenthalt mitgegeben hat. Neben unschönen oder
unverständlichen Dingen war da eine Formulierung drin, die zeigt,
dass Ärzte auch das Gute im Menschen sehen. Die allgemeine körperliche
Untersuchung ergab nämlich bei mir folgenden Befund: "Darmgeräusche
positiv, über alle vier Quadranten". Das klingt so, wie
ich mich gerade fühle, nämlich rundum wohl.
Der
Begriff "jetzt" grosszügig auszulegen, ist übrigens
keine ungarische Spezialität. Das Nachrichtenmagazin "Der
Spiegel" hatte in seiner Ausgabe diese Woche einen Bericht
über die Sprache in Arztbriefen drin. Man könnte ja meinen,
dass wenigstens die Hausärzte das verstehen, was die Kollegen
in den Krankenhäusern ihnen schreiben. Genau das sei aber oft
nicht der Fall, so der "Spiegel", dies habe "jetzt"
eine Studie der Heinrich-Heine-Universität gezeigt.
Nun
wollen wir die armen Kollegen vom "Spiegel" nicht
noch mehr piesacken, kämpfen sie doch schon seit Monaten mit
dem Problem, dass einer der ihren Reportagen erfunden hat, und
neuerdings auch mit der Tatsache, dass sich nicht alle SPD-Hierarchen
an eine Telefonschalte erinnern, über die das Nachrichtenmagazin
exklusiv berichtete.

Aber
darauf hinweisen wird man müssen, dass die Ergebnisse der Studie
nicht "jetzt" vorliegen, sondern schon seit Monaten.
Im April berichtete bereits die Nachrichtenagentur dpa darüber,
dass von den 197 befragten Hausärzten fast alle (98,5 Prozent)
angaben, schon einmal Arztbriefe erhalten zu haben, die sie
nicht auf Anhieb verstehen konnten. Aber gut, sehen wir es menschlich:
Auch beim "Spiegel" bleibt man nach dem Klingeln gerne
noch ein bisschen liegen oder lackiert sich die Fingernägel.
Und wer das Thema nicht googelt, merkt von dem Ganzen sowieso
nichts.
Während ich mich morgens an
meine Frau kuschle, denke ich ohnehin nur positiv. Laut ärztlichem
Befund habe ich zum Beispiel auch "keine latenten oder
manifesten Paresen". Das klingt doch gut, auch wenn nur
Eingeweihte verstehen, was damit gemeint ist. Wenn eine Stimme
in mir in solchen Momenten von mir fordert, darüber einen Artikel
zu schreiben, geht mir das normalerweise an allen vier Quadranten
vorbei. Nur gut, dass ich doch noch aufgestanden bin.
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