Alle möglichen gesellschaftlichen Randgruppen
werden skeptisch beäugt. Aber wer kümmert sich eigentlich um
die radikalisierte Mittelschicht?
Ich
bin diese Woche Zeuge geworden, wie eine junge Mutter mit Kinderwagen
einen Fussgängerübergang überquerte. Bei Rot! Zur Entlastung
der Frau könnte ich erwähnen, dass weit und breit kein Auto
zu sehen war und das Kind geschlafen hatte. Gleichwohl hätte
ich der Frau das nicht durchgehen lassen dürfen. Wer weiss schon,
ob Kleinkinder mit geschlossenen Augen wirklich nichts sehen?
Das
Mindeste, was man von einem verantwortungsbewussten Bürger erwarten
dürfte, ist, dass er die Szene filmt und über die sozialen Netzwerke
mit allen teilt. Habe ich leider versäumt, aber dafür plädiere
ich an dieser Stelle für die Kenzeichenpflicht von Kinderwagen.
Ich erwähne das auch deshalb, weil im Mai ja Wahlen anstehen.
Eine Kennzeichenpflicht für Kinderwagen hat meines Wissens nach
noch keine Partei auf dem Programm. Vielleicht könnte man damit
Typen wie mich, die sich zur respektablen, mittlerweise aber
sich radikalisierenden Mittelschicht zählen, sehr gut ködern.
Ich will nicht zu viel versprechen, aber ich bin Wechselwähler,
aber es könnte ja doch hinhauen.

Ist
schon komisch, das Leben. Als aufmüpfiger Jüngling hast du brav
George Orwells "1984" gelesen, hast du 1987 bei der
Volkszählung den totalitären Überwachungsstaat am Horizont aufziehen
sehen - und dann denkst du mit 57 über Nummertafeln für unschuldige
Kinderwagen nach. Könnte an der Hormonumstellung liegen, am
Klimawandel, aber auch daran, dass der Mensch zu Merkwürdigkeiten
neigt, wenn gleich zwei epochale Ereignisse zeitlich eng beieinanderliegen.
Ich spreche von der Zeitumstellung am vergangenen Sonntag und
dem darauffolgenden Montag, der rein zufällig auf den 1. April
fiel.
Google verzeichnet unter "negative
Folgen der Sommerzeit" 663 000 Ergebnisse. Wie viel Aprilscherz-Potenzial
darin steckt, verrät Google dabei leider nicht. Wenn man da
nicht verwirrt sein darf.
Auch das
Foto, das mir eine Leserin gemailt hat, half kaum gegen diese
Konfusion. Die Frau hatte in einem Ausfluglokal ein Schild mit
folgenden Spruch entdeckt: "Ein Haus ohne eine Katze ist
nur ein Haus." Katzenfreunde mögen darin einen tiefen Sinn
entdecken. Als normaler Mensch fällt mir dann dazu ein: "Ein
Haus ohne Klapperschlange ist auch nur ein Haus."

Meine
Verwirrung wäre wohl noch grösser, hätte ich mir nicht ein paar
freie Tage am Lago Maggiore gegönnt. Auf einem Berg traf ich
auf ein junges Paar, das nicht nur den Blick über den Berg genoss.
Es liess sich dabei filmen, von einem Flugobjekt, das surrte
wie ein Wespenschwarm auf Droge. Mal nahm das Kameraauge der
Drohne die Landschaft ins Visier, dann die jungen Leute. So
ging das eine halbe Ewigkeit.
Die Szene
brachte mich auf eine Idee: Warum statten wir nicht jeden Neugeborenen
auf Erden mit einer Körperkamera aus, einer sogenannten Bodycam,
die sein Leben vom ersten Augenblick an festhält? Die ersten
40 Jahre wird gefilmt, dann wird 40 Jahre lang geschaut. Und
wenn der Film abgelaufen ist, gibt's lustige Werbeclips und
sämtliche Folgen der "Lindenstrasse" bis zum Abwinken.
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