Völlig überraschend fiel der Winter über die
recht ahnungslosen Menschen her. Und das zu allem Übel auch
noch mitten im Winter.
Als hätte es
keinerlei Vorhersagen in Funk, Printerzeugnissen und dem ohnehin
leicht erregbaren Fernsehen gegeben. Auch keine zeitigen Warnungen
vom Wetterdienst, ganz zu schweigen von einer digitalen Enzyklopädie
namens Wikipedia (Suchwort: Winter) oder dem reichhaltigen Erfahrungsschatz
der etwas älteren Mitbürger, die sich noch mit Schaudern an
den gefürchteten Hungerwinter 1946/47 erinnern und stündlich
davon erzählen können (und wollen).

Doch
Schnee, Glätte, Wind und Kälte sind für viele eine geradezu
lawinenmässige Zumutung, selbst im praktisch eisfreien Stuttgarter
Kessel, hunderte von Kilometer entfernt von den tatsächlich
zugeschneiten und hilfsbedürftigen Dörfer in den Alpen.
So
viel Wetter auf einmal hat natürlich schwerwiegende Konsequenzen.
In der Mode herrscht seit Tagen der Ausnahmezustand. Walfänger
mit Harpunen (oder waren es Nordic-Walking-Spiesse?) wurden
am Eckensee beobachtet. Kleinfamilien haben ihre Körperumfänge
durch dutzendfach geschichtete Kleiderpellen verdreifacht, sie
ähneln wahlweise marodierenden Königspinguinkolonien oder Polarexpeditionen,
welche die legendäre Nordwestpassage zum nächsten Bioladen erstmal
zu Fuss auskunftschaften wollen. Der Nachschub an Kunstfell,
Daunen, gepanschtem Diesel und künstlich intelligenten Räumgeräten
aus China stockt. Nicht wenige Winteropfer verlassen aus Angst
vor dem baldigen Erfrierungstod ihre wohltemperierten, auf der
Weinsteige quergestrandeten Luxusgeländewagen wahrscheinlich
niemals wieder. Die fetten Jahre sind nun wirklich vorbei.
Im
Skigebiet auf der Gänsheide wurden mehrere gut situierte Witwen
beim Verlassen ihrer zart bestäubten Villen von einer weissen
Gerüchtelawine erfasst und zum Teil verschüttet. Katastrophenalarm
wurde ausgelöst, als jemand unter der Paulinenbrücke einen baumgrossen,
gelbäugigen Yeti mit langen Zotteln gesehen haben wollte. Doch
der vermeintliche Schneemensch entpuppte sich nach einer landesweiten
Rasterfahndung nur als Michael Gaedt, der mit getönter Brille
und einem fellähnlichen Gewand weinende Abiturienten aufscheuchte,
die Schneeflocken bisher nur von Instagram kannten.
Sirupartiger
Schneematsch beeinträchtigte auch das halbe öffentliche Leben
in der Königsstrasse. Ursache der Verkehrsbehinderungen sind
laut einem Sprecher umgestürzte oder sich gegenseitige einkeilende
Funktionsjacken, die den WInterschlussverkauf zeitweise zum
Erliegen gebracht haben. Wer konnte, brachte sich bei Primark
in Sicherheit, drängelte sich feuchtwarm und kaufte anschliessend
einen Zentner Synthetikwäsche für unschlagbare neunneunundneunzig
sowie einen rosafarbenden Turban aus Frottee für zwei Euro.
Doch
zum Glück gibt es noch das Warenhaus der guten Dinge und entspannungsorientierten
Konsumbürger, Manufactum im Restaurantbereich. Da gibt es diese
Sitzbank gegenüber der Toilette, auf der normalerweise Mütter
stillen. Nicht so an diesem denkwürdigen Tag. Draussen kündigt
sich der nächste Blizzard mit WIndgeschwindigkeiten von mehr
als 30 Stundenkilometern an, da kommt eine gepflegte Mitfünfzigerin
in den Laden, nimmt Platz und kramt seelenruhig ein Schuhpflegeset
aus dem Rucksack. Dann beginnt sie, ihre Schuhe zu bürsten.
Und zwar gründlich mit ritualisierten Bewegungen. Schliesslich
wischt sie das Leder mit dem Imprägniertuch ab, wohl um ekligen
Matschrändern vorzubeugen, Unglaublich, das.

Solch
ein Anblick ist eine Seltenheit geworden, selbst im angeblich
putzwütigen Schwaben. Verschlammte Treter sind allgegenwärtig
an den Patschefüssen. Porentief gereinigte Schuhe sind völlig
aus der Mode gekommen. Spätestens seit dem Einbruch des Klimawandels
in unserem Alltag ist gepflegtes Schuhwerk mit Absätzen und
womöglich aus feinem Leder in diesen Breitengraden vom Aussterben
bedroht wie der arme Schneeleopard im Himalaja. Man trägt eben
bequeme Überlebenstreter aus Gummi, Trekkingstiefel oder Sneaker.
Selbst
die Turnschuhe, die nach dem tyrannisch herrschenden Modediktat
so weiss wie eine eingeschneite Albhochfläche leuchten müssten,
werden neuerdings von Haus aus "distressed", also
dreckig und verlatscht geliefert, mit einer aufgesprühten Staubschicht.
Der Schmuddellook beschränkt sich nicht nur auf das Simulieren
von Abnützungsspuren. Ein italienischer Sportschuh-Hersteller
versieht seine neueste Kollektion mit Klebebändern auf der Schuhkappe.
Als müsste man die Teile vor dem Auseinanderfallen bewahren.
Der Preis? Rund 500 Euro. Kritiker sprechen angesichts dieser
Verrohung der Schuhpflegesitten von einer "zynischen Armutsverherrlichung".
Wer sich das Geld sparen will, tollt einfach mit seinen weissen
Tretern im meterhohen Schneematschgebirge umher. Da sind die
Schuhe voll drin im Dreck und Trend.
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