Dinge, so oder so

 

Die Dinge des Winter (11. Januar 2019)
 
Die Dinge des Winter 2019
 

Völlig überraschend fiel der Winter über die recht ahnungslosen Menschen her. Und das zu allem Übel auch noch mitten im Winter.

   Als hätte es keinerlei Vorhersagen in Funk, Printerzeugnissen und dem ohnehin leicht erregbaren Fernsehen gegeben. Auch keine zeitigen Warnungen vom Wetterdienst, ganz zu schweigen von einer digitalen Enzyklopädie namens Wikipedia (Suchwort: Winter) oder dem reichhaltigen Erfahrungsschatz der etwas älteren Mitbürger, die sich noch mit Schaudern an den gefürchteten Hungerwinter 1946/47 erinnern und stündlich davon erzählen können (und wollen).



   Doch Schnee, Glätte, Wind und Kälte sind für viele eine geradezu lawinenmässige Zumutung, selbst im praktisch eisfreien Stuttgarter Kessel, hunderte von Kilometer entfernt von den tatsächlich zugeschneiten und hilfsbedürftigen Dörfer in den Alpen.

   So viel Wetter auf einmal hat natürlich schwerwiegende Konsequenzen. In der Mode herrscht seit Tagen der Ausnahmezustand. Walfänger mit Harpunen (oder waren es Nordic-Walking-Spiesse?) wurden am Eckensee beobachtet. Kleinfamilien haben ihre Körperumfänge durch dutzendfach geschichtete Kleiderpellen verdreifacht, sie ähneln wahlweise marodierenden Königspinguinkolonien oder Polarexpeditionen, welche die legendäre Nordwestpassage zum nächsten Bioladen erstmal zu Fuss auskunftschaften wollen. Der Nachschub an Kunstfell, Daunen, gepanschtem Diesel und künstlich intelligenten Räumgeräten aus China stockt. Nicht wenige Winteropfer verlassen aus Angst vor dem baldigen Erfrierungstod ihre wohltemperierten, auf der Weinsteige quergestrandeten Luxusgeländewagen wahrscheinlich niemals wieder. Die fetten Jahre sind nun wirklich vorbei.

   Im Skigebiet auf der Gänsheide wurden mehrere gut situierte Witwen beim Verlassen ihrer zart bestäubten Villen von einer weissen Gerüchtelawine erfasst und zum Teil verschüttet. Katastrophenalarm wurde ausgelöst, als jemand unter der Paulinenbrücke einen baumgrossen, gelbäugigen Yeti mit langen Zotteln gesehen haben wollte. Doch der vermeintliche Schneemensch entpuppte sich nach einer landesweiten Rasterfahndung nur als Michael Gaedt, der mit getönter Brille und einem fellähnlichen Gewand weinende Abiturienten aufscheuchte, die Schneeflocken bisher nur von Instagram kannten.

   Sirupartiger Schneematsch beeinträchtigte auch das halbe öffentliche Leben in der Königsstrasse. Ursache der Verkehrsbehinderungen sind laut einem Sprecher umgestürzte oder sich gegenseitige einkeilende Funktionsjacken, die den WInterschlussverkauf zeitweise zum Erliegen gebracht haben. Wer konnte, brachte sich bei Primark in Sicherheit, drängelte sich feuchtwarm und kaufte anschliessend einen Zentner Synthetikwäsche für unschlagbare neunneunundneunzig sowie einen rosafarbenden Turban aus Frottee für zwei Euro.

   Doch zum Glück gibt es noch das Warenhaus der guten Dinge und entspannungsorientierten Konsumbürger, Manufactum im Restaurantbereich. Da gibt es diese Sitzbank gegenüber der Toilette, auf der normalerweise Mütter stillen. Nicht so an diesem denkwürdigen Tag. Draussen kündigt sich der nächste Blizzard mit WIndgeschwindigkeiten von mehr als 30 Stundenkilometern an, da kommt eine gepflegte Mitfünfzigerin in den Laden, nimmt Platz und kramt seelenruhig ein Schuhpflegeset aus dem Rucksack. Dann beginnt sie, ihre Schuhe zu bürsten. Und zwar gründlich mit ritualisierten Bewegungen. Schliesslich wischt sie das Leder mit dem Imprägniertuch ab, wohl um ekligen Matschrändern vorzubeugen, Unglaublich, das.



   Solch ein Anblick ist eine Seltenheit geworden, selbst im angeblich putzwütigen Schwaben. Verschlammte Treter sind allgegenwärtig an den Patschefüssen. Porentief gereinigte Schuhe sind völlig aus der Mode gekommen. Spätestens seit dem Einbruch des Klimawandels in unserem Alltag ist gepflegtes Schuhwerk mit Absätzen und womöglich aus feinem Leder in diesen Breitengraden vom Aussterben bedroht wie der arme Schneeleopard im Himalaja. Man trägt eben bequeme Überlebenstreter aus Gummi, Trekkingstiefel oder Sneaker.

   Selbst die Turnschuhe, die nach dem tyrannisch herrschenden Modediktat so weiss wie eine eingeschneite Albhochfläche leuchten müssten, werden neuerdings von Haus aus "distressed", also dreckig und verlatscht geliefert, mit einer aufgesprühten Staubschicht. Der Schmuddellook beschränkt sich nicht nur auf das Simulieren von Abnützungsspuren. Ein italienischer Sportschuh-Hersteller versieht seine neueste Kollektion mit Klebebändern auf der Schuhkappe. Als müsste man die Teile vor dem Auseinanderfallen bewahren. Der Preis? Rund 500 Euro. Kritiker sprechen angesichts dieser Verrohung der Schuhpflegesitten von einer "zynischen Armutsverherrlichung". Wer sich das Geld sparen will, tollt einfach mit seinen weissen Tretern im meterhohen Schneematschgebirge umher. Da sind die Schuhe voll drin im Dreck und Trend.
 

 

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