Nie wird so oft gelogen wie zum Jahresbeginn.
Oder meinen Sie das immer ernst, wenn Sie "Ein gutes neues
Jahr" wünschen? Dann sind Sie ein guter Mensch.
Denkt
an diesen Tagen, da das Jahr noch grün hinter den Ohren ist,
eigentlich einer an jene Menschen, die einen öffentlichen Arbeitsplatz
bekleiden? Also beispielsweise im Foyer eines Bürohauses sitzen
und von morgens bis abends den hereinspazierenden Damen und
Herren "ein gutes neues Jahr" wünschen müssen.
Wer das eine komplette Schicht packt, hat den allergrössten
Respekt verdient. Das wird nur vom Pförtner eines US-Reifenherstellers
übertroffen, der ganzjährig "Good Year" sagt.
Kleiner
Scherz am Rande. Als maulfauler Schwabe bin ich längst bei "Gutsneus"
angekommen. Gutsneus ist eine Mogelpackung. Man kann das auch
zu Leuten sagen, denen man gar kein "neues Jahr" wünschen
möchte, und schon gar kein "gutes". Ausserdem ist
Gutsneus der Versuch, möglichst schnell den Jahreswechsel hinter
sich zu lassen.

In
feinstaubgetrübten Tagen wie diesen über die Silvesternacht
zu reden, kann riskant sein. Was, wenn das Gegenüber ins Detail
geht und wissen will, was man so getrieben? Nach zig ausweichenden
Antworten hört man den anderen sagen: "Du hast doch nicht
etwa geböllert?!" Was soll man da entgegnen? Nach einer
ehrlichen Antwort wäre er erschüttert wie weiland die ganze
Republik, als die schauspielernde Mutter der Nation Inge Meysel
ihren Kindern gestand: "Ja, ich habe abgetrieben."
Ja,
ich habe geböllert! Wohl wissend, dass wir deutschen Hornochsen
an Silvester so viel Dreck in die Luft ballern, dass jeder rechtschaffende
Vulkan davon einen Hustenanfall bekommt. Aber was soll man als
Kind der Nachkriegsgeneration auch machen? Wir schleppen keine
Kriegstraumata mit uns herum, die einen bei jedem Donnerschlag
erschauern lassen. Böllern war für uns immer auch ein bissle
Aufstand. Selbst Kriegsdienstverweigerer haben geböllert.
Vielleicht
hätte sich die Sache auch totgelaufen, aber als Brot für die
Welt anfing, mit dem Slogan "Brot statt Böller" auf
Spendentour zu gehen, haben einige von uns mit dem Gedanken
gespielt. Brotlaibe zu sprengen. Ich könnte Namen nennen. Komisch.
das Gehirn vergisst so vieles, aber so einen Blödsinn nicht.
Gutsneus-mässig
bin ich inzwischen ziemlich durch. Ich hätte Sie mit dem Jahreswechsel
auch nicht mehr belästigt, aber ginge mir nicht ständig dieses
Lied durch den Kopf. Irgendwann während der Feiertage lief "Kein
Pardon", eine 25 Jahre alte Satire aufs Fernsehen mit Hape
Kerkeling. Zuerst singt Heinz Schenk als Show-Moderator "Witzischkeit
kennt keine Grenzen". Dann übernimmt Hape Kerkeling.

Normalerweise
kriegt man so einen Ohrwurm wieder los, indem man ein Gegengift
schluckt, sich also einen anderen Ohrwurm reinpfeift. In dem
Fall scheint nichts zu helfen. Nicht mal Helene Fischer. Ob
beim EInschlafen, beim Aufwachen, selbst jetzt beim Schreiben
singt es in mir: "Witzischkeit kennt keine Grenzen / Witzischkeit
kennt kein Pardon." Manchmal ist es kaum auszuhalten, dann
brülle ich "Gutsneus". Mein Gummibaum schaut schon
so komisch.
Haben wir uns eigentlich
schon? Bin mir nicht so sicher. Also, Gutsneus! Ist ehrlich
gemeint, nicht witzisch.
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