Ich war diese Woche beim
Augenarzt - und als ich die Praxis nach einer Stunde verliess,
war ich erleichtert und erleuchtet zugleich. Ich sehe die Welt
nun mit anderen Augen.
Eine Erkenntnis
dürfte für Menschen von Interesse sein, die dem Wohlklang zugetan
und darauf bedacht sind, dass ihr Lebensabschnittpartner mit
der Wohnzimmereinrichtung harmoniert. In irgendeinem Raum der
weitläufigen Praxis sass der Pianist Richard Clayderman und
streichelte über die Tasten eines Flügels. Auch wenn die weltberühmte
"Ballade pour Adeline" während meines Aufenhalts nicht
den Wartebereich erfüllte, die Musik trug eindeutig des grossen
französischen Weichmachers.

Ich
klimperte auf meinem Smartphone herum und stiess auf ein Zitat
des inzwischen verstorbenen Jazz-Kritikers Michael Naura. "Es
gab Frisöre und es gab Pianisten. Der Franzose Richard Clayderman
ist ein Pianör." Für mich hört sich das nach einer Auszeichnung
an.
In der Kürze der Zeit war es mir
nicht möglich herauszufinden, ob Richard Clayderman in der Arztpraxis
gefangen gehalten wird oder ob er aus freien Stücken dort spielt.
Aber ich ahnte, welchen Zweck der Chef des Ladens mit der Darbietung
verfolgt. Er will Menschen, deren Sehkraft nachlässt, die Augen
öffnen. Sie sollen erkennen, dass sie noch über andere Sinnesorgane
verfügen, die sie an den schönen Dingen des Lebens teilhaben
lassen.
Manchmal wurde die Harmonie
des Clayderman'schen Vortrag durch die Stimme einer Sprechstundenhilfe
unterbrochen, die wartende Patienten aufrief. Aus der Lautstärke
schloss ich, dass die Frau früher in einer HNO-Praxis gearbeitet
haben muss. Oder sie hat die Erfahrung gemacht, dass die wartenden
Patienten ob der musikalischen Darbietung schlicht eingedöst
waren.
Irgendwann erklang auch mein
Name. Ich wurde in ein Zimmer geführt, in dem eine Ärztin mit
einer Taschenlampe aus allen möglichen Winkeln in meine Augen
leuchtete. Kritisch dreinblickend stellte sie nach kurzer Zeit
fest, dass ich einen seltenen Defekt hätte. Meine Augen würden
in unterschiedliche Richtungen schauen. Defekt klingt zwar blöd,
aber immerhin ist's ein seltender und keiner von der Stange.
Da drückt man als Patient ein Auge zu.

Dann
gab mir die Frau noch einen geldwerten Rat mit auf den Weg.
Ich solle mir von einem Optiker keine teure Gleitsichtbrille
aufschwätzen lassen. Die könne ich mir bei diesem Sehfehler
schenken.
Wäre noch zu erwähnen, dass
der Chef der Praxis, der offenbar mehrere Filialen betreibt,
vor ein paar Jahren mit einem Innovationspreis ausgezeichnet
worden. Woher ich das weiss? Ich entnahm dieses einem Plakat
im Warteraum, das übrigens leicht schief hing. Auch dahinter
vermute ich eine Absicht. Es baut einen auf, wenn man trotz
Knick in der Optik die Schieflage erkennen kann.
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