Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (14. Oktober 2018)
 
Mit Richard Clayderman beim Augenarzt
 

   Ich war diese Woche beim Augenarzt - und als ich die Praxis nach einer Stunde verliess, war ich erleichtert und erleuchtet zugleich. Ich sehe die Welt nun mit anderen Augen.

   Eine Erkenntnis dürfte für Menschen von Interesse sein, die dem Wohlklang zugetan und darauf bedacht sind, dass ihr Lebensabschnittpartner mit der Wohnzimmereinrichtung harmoniert. In irgendeinem Raum der weitläufigen Praxis sass der Pianist Richard Clayderman und streichelte über die Tasten eines Flügels. Auch wenn die weltberühmte "Ballade pour Adeline" während meines Aufenhalts nicht den Wartebereich erfüllte, die Musik trug eindeutig des grossen französischen Weichmachers.



   Ich klimperte auf meinem Smartphone herum und stiess auf ein Zitat des inzwischen verstorbenen Jazz-Kritikers Michael Naura. "Es gab Frisöre und es gab Pianisten. Der Franzose Richard Clayderman ist ein Pianör." Für mich hört sich das nach einer Auszeichnung an.

   In der Kürze der Zeit war es mir nicht möglich herauszufinden, ob Richard Clayderman in der Arztpraxis gefangen gehalten wird oder ob er aus freien Stücken dort spielt. Aber ich ahnte, welchen Zweck der Chef des Ladens mit der Darbietung verfolgt. Er will Menschen, deren Sehkraft nachlässt, die Augen öffnen. Sie sollen erkennen, dass sie noch über andere Sinnesorgane verfügen, die sie an den schönen Dingen des Lebens teilhaben lassen.

   Manchmal wurde die Harmonie des Clayderman'schen Vortrag durch die Stimme einer Sprechstundenhilfe unterbrochen, die wartende Patienten aufrief. Aus der Lautstärke schloss ich, dass die Frau früher in einer HNO-Praxis gearbeitet haben muss. Oder sie hat die Erfahrung gemacht, dass die wartenden Patienten ob der musikalischen Darbietung schlicht eingedöst waren.

   Irgendwann erklang auch mein Name. Ich wurde in ein Zimmer geführt, in dem eine Ärztin mit einer Taschenlampe aus allen möglichen Winkeln in meine Augen leuchtete. Kritisch dreinblickend stellte sie nach kurzer Zeit fest, dass ich einen seltenen Defekt hätte. Meine Augen würden in unterschiedliche Richtungen schauen. Defekt klingt zwar blöd, aber immerhin ist's ein seltender und keiner von der Stange. Da drückt man als Patient ein Auge zu.



   Dann gab mir die Frau noch einen geldwerten Rat mit auf den Weg. Ich solle mir von einem Optiker keine teure Gleitsichtbrille aufschwätzen lassen. Die könne ich mir bei diesem Sehfehler schenken.

   Wäre noch zu erwähnen, dass der Chef der Praxis, der offenbar mehrere Filialen betreibt, vor ein paar Jahren mit einem Innovationspreis ausgezeichnet worden. Woher ich das weiss? Ich entnahm dieses einem Plakat im Warteraum, das übrigens leicht schief hing. Auch dahinter vermute ich eine Absicht. Es baut einen auf, wenn man trotz Knick in der Optik die Schieflage erkennen kann.
 

 

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