Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (07. Oktober 2018)
 
Zruck! Zruck! Zruck!
 

   Deutschland ist dieser Tage ganz bei sich. Millionen Menschen sammeln sich in  den Maschinenräumen der Ekstase, tauchen in einer Blase der Selbstversenkung inmitten des apokalyptischen Orkans ein, umgeben von Dunst, Schweiss und Getöse. Halb offene Münder entlassen gutturale Reime, Eingeweide rumoren, Brüste tanzen, Schminke fliesst.



   Gefühle, Stimmungen, Sehnsüchte und verdrängte Lüste verdichten sich in jenem existenziellen Moment, in dem zum ersten Mal der Boden des Bierkrugs zu sehen ist und der Leben spendende Nektar zu versiegen droht. In dieser depressiösen Situation stellt sich der Mensch letztgültige Fragen: Gibt es ein Leben nach der Leere? Warum stehe ich auf einem Tisch - umgeben von rumänischen Tanzbären in Lederhosen? Wer hilft mir, jenen Verschluss an der ungewohnten Tracht zu öffnen, der den Körpersäften das sanfte Ausströmen ermöglicht? Wie komme ich an jenen sagenhaften, mythenumwaberten Ort der Entlastung, des Werdens, Seins und Vergehens? Wo ist eigentlich meine Zunge? Ist dieses Dunkle in meinem Bierglas ein Hähnchenschenkel oder der Lippenstift des Dirndls neben mir? Und welche sublime Botschaft versteckt sich hinter den aufbrandenden Restfragmenten "Zruck zruck zruck zruck zruck zu Dir" ... "Vo-hon der Erde lo-oho-o-oho-os" ... "die Krüüüge" ... "Humpofbapbapblabrrscht!"?

   Die Mass aller Dinge verdrängt wenigstens für kurze Zeit Alltagsmisere und Politikgezänk. Studien haben gezeigt, dass sich bei den meisten Menschen nach einem Liter Bier eine versöhnliche, leicht melancholische Stimmung einstellt, eine überlegen erotische Bedürfnislosigkeit und milde Toleranz. Nach dem nächsten Krug werden bereits Subjekt und Prädikat vertauscht und durch radikale Systemverneinungsphrasen ersetzt. Der dritte Liter - vor allem wenn keine Zwischendecke in Form eines fettbraunen Hendls eingezogen wird - führt zur völligen erotischen Enthemmung. Leider kann dieses Versprechen aber nicht mehr eingelöst werden. Alle weiteren Krüge entziehen sich einer detaillierten Protokollierung und stellen den Trinker auf dieselbe Stufe mit einem verwahrlosten Kleinnagetier, dessen Geist und Körper auf die vitalen Grundfunktionen reduziert sind: Fressen, Trinken, Ausscheiden.



   Das alles dient dem Gemeinwesen. Denn dem Sog der Bierzelte erliegen gemeine Leute genauso wie Prominente. Alle sind gleich. Es wird nicht unterschieden nach Gehaltsstufe B9, B14 oder Hartz IV, nach rechter Gesinnung oder linkem Anarchismus. Wenn Deutschland nach dem letzten Bier aufstösst, geht ein Ruck durch Europa. Und am Ende, wenn die letzten Stimmungskracher verklungen sind und die Musikanten mit leerem Blick ihre Instrumente säubern, kriechen Mensch und Tier ins Freie und riechen zum ersten Mal wieder frische Luft.
 

 

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