Deutschland ist dieser Tage
ganz bei sich. Millionen Menschen sammeln sich in den
Maschinenräumen der Ekstase, tauchen in einer Blase der Selbstversenkung
inmitten des apokalyptischen Orkans ein, umgeben von Dunst,
Schweiss und Getöse. Halb offene Münder entlassen gutturale
Reime, Eingeweide rumoren, Brüste tanzen, Schminke fliesst.

Gefühle,
Stimmungen, Sehnsüchte und verdrängte Lüste verdichten sich
in jenem existenziellen Moment, in dem zum ersten Mal der Boden
des Bierkrugs zu sehen ist und der Leben spendende Nektar zu
versiegen droht. In dieser depressiösen Situation stellt sich
der Mensch letztgültige Fragen: Gibt es ein Leben nach der Leere?
Warum stehe ich auf einem Tisch - umgeben von rumänischen Tanzbären
in Lederhosen? Wer hilft mir, jenen Verschluss an der ungewohnten
Tracht zu öffnen, der den Körpersäften das sanfte Ausströmen
ermöglicht? Wie komme ich an jenen sagenhaften, mythenumwaberten
Ort der Entlastung, des Werdens, Seins und Vergehens? Wo ist
eigentlich meine Zunge? Ist dieses Dunkle in meinem Bierglas
ein Hähnchenschenkel oder der Lippenstift des Dirndls neben
mir? Und welche sublime Botschaft versteckt sich hinter den
aufbrandenden Restfragmenten "Zruck zruck zruck zruck zruck
zu Dir" ... "Vo-hon der Erde lo-oho-o-oho-os"
... "die Krüüüge" ... "Humpofbapbapblabrrscht!"?
Die
Mass aller Dinge verdrängt wenigstens für kurze Zeit Alltagsmisere
und Politikgezänk. Studien haben gezeigt, dass sich bei den
meisten Menschen nach einem Liter Bier eine versöhnliche, leicht
melancholische Stimmung einstellt, eine überlegen erotische
Bedürfnislosigkeit und milde Toleranz. Nach dem nächsten Krug
werden bereits Subjekt und Prädikat vertauscht und durch radikale
Systemverneinungsphrasen ersetzt. Der dritte Liter - vor allem
wenn keine Zwischendecke in Form eines fettbraunen Hendls eingezogen
wird - führt zur völligen erotischen Enthemmung. Leider kann
dieses Versprechen aber nicht mehr eingelöst werden. Alle weiteren
Krüge entziehen sich einer detaillierten Protokollierung und
stellen den Trinker auf dieselbe Stufe mit einem verwahrlosten
Kleinnagetier, dessen Geist und Körper auf die vitalen Grundfunktionen
reduziert sind: Fressen, Trinken, Ausscheiden.

Das
alles dient dem Gemeinwesen. Denn dem Sog der Bierzelte erliegen
gemeine Leute genauso wie Prominente. Alle sind gleich. Es wird
nicht unterschieden nach Gehaltsstufe B9, B14 oder Hartz IV,
nach rechter Gesinnung oder linkem Anarchismus. Wenn Deutschland
nach dem letzten Bier aufstösst, geht ein Ruck durch Europa.
Und am Ende, wenn die letzten Stimmungskracher verklungen sind
und die Musikanten mit leerem Blick ihre Instrumente säubern,
kriechen Mensch und Tier ins Freie und riechen zum ersten Mal
wieder frische Luft.
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