Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (18. Juni 2017)
 
Das Becken der Nation
 

   "Entschuldigung, ihr Langnese-Flutschfinger steckt in meiner Nase." - "Junger Mann, Sie wissen schon, dass ein Badetuch einen Mindestabstand von zehn Zentimetern vom Nachbarhandtuch haben muss. Ihres ist viel zu nah!" - "Wo ist meine Curry mit Fritten?" - "Oh, die hat gerade der Junge im Kinderbecken zu Wasser gelassen. Jetzt tunkt er sie unter Wasser. Drollig, nicht?"



   Mit diesen typischen Satzfragmenten springen wir kopfüber in das sommerliche Epizentrum unserer Gesellschaft, dem Freibad. In dieser hemmungsbefreiten Zone liegen fehlernährte Teenager wie teigige Mittelgebirge auf den von Zigarettenstummeln übersäten Wiesen. Brünstige Athleten tänzeln am Beckenrand. Mädchen, deren Stringtangas problemlos durch ein Stück Zahnseide zu ersetzen wäre, räkeln und seufzen, kreischen und jonglieren mit Eisbechern und Smartphones, den unerlässlichen Ordnungsinstrumenten der Freitzeitzeremonie. Frühmorgens ziehen Senioren mit der Unerbittlichkeit eines U-Boot-Geschwaders auf Feindfahrt ihre Bahnen, ehe sie die Flucht vor der Offensive der Belustigungsarmee ergreifen.

   Studien zufolge sind deutsche Freibäder die modernsten und schlagkräftigsten weltweit. Nach dem Krieg wurden sie geplant, ausgehoben und geflutet. Sprungtürme und Rutschen wuchsen in die Höhe wie die Weihestätten eines mysteriösen Totenkults. Ein deutsches Freibad ist heute in der Lage, täglich tausende Liter austretender Körperflüssigkeiten, dazu Bier, Ketchup und Sonnenöl aufzubereiten und dem Badezyklus wieder zuzuführen. So hat der hungrige Besucher ein Schaschlik auf dem Pappteller, das noch den Beigeschmack des Sonnenöls jener jungen Frau mit sich trägt, die eine Stunde zuvor neben ihm im Wasser war.



   Die Politik hat die Bedeutung des Freibads natürlich längst erkannt. Der Spitzenkandidat der SPD, bisher eher glücklos, plant dort seine Gerechtigkeitstournee. Die Choreografie sieht vor, dass alle Besucher exakt bis zum Hals im Wasser stehen. Mit sozialistischer Gleichmacherei habe das alles nichts zu tun, heisst es. Die Union lädt Rentner zur Wassergymnastik ein und verteilt kostenlose Stabilitäts-Badehosen. Die Grünen wollen die Bäder mit Krötentümpeln und Solarzellen ausstatten und die AfD präsentiert Pläne für eine Badeordnung, die jedem Migranten vor Betreten der Anlage zwingt, 50-mal den Satz "Ich darf nicht vom Seitenrand ins Becken springen" zu schreiben.

   Niemand will mehr am Beckenrand der Gesellschaft stehen. Mindestens bis zu jenem Moment, wo der erste kühle Luftzug über die Walstatt zieht, die Sonne frühabends die Müllberge in goldenes Licht taucht und das Freibad zum Ort melancholischer Weltvergessenheit wird - vergleichbar mit einem albanischen Autobahnkreuz in der Morgenröte. Bis dahin müssen wir noch durchhalten.

 

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