Es ist lange her, da war
der Begriff des Opfers reserviert für kultische Handlungen und
für bedauernswerte Menschen, denen tatsächlich übel mitgespielt
wurde. Es bestand keine Verwechselungsgefahr, man unterschied
zwischen Opfern und Tätern, zumindest in funktionierenden Demokratien
und in Sonntagskrimis.
Doch dank der
vielen Orhans, Erdogans und Kaczynskis ist die Differenzierung
heute eine vergessene Kulturtechnik geworden. Mittlerweise kann
sich jeder als ein Opfer bezeichnen, auch ohne Abitur und Leidensnachweis.
Opfer ist jetzt ein anerkannter Einbildungsberuf mit famosen
Zukunftsaussichten.

Über
sein Leben als Opfer zu schwadronieren, kann nicht nur für populistische
Politiker ungeheuer befreiend sein. So ist man als Anwohner
des inzwischen weltberühmten, von Feinstaubnebeln umwölkten
Stuttgarter Neckartors der Small-Talk-Star in jedem ICE-Grossabteil.
Man muss lediglich hüstelnd darauf hinweisen, wo man wohnt,
und man bekommt sofort auch ohne Platzkarte einen Sitzplatz
angeboten. Erntet Mitleid von attraktiven "Zeit"-Abonnentinnen
mit Bahncard-100, die einem die Russpartikel zärtlich von der
Stirn tupfen. Mitreisende Ärzte zücken ihre Stethoskope, analysieren
im Bordbistro bei einem Spätburgunder die fluoreszierenden Moosgrüntöne
des abgehusteten Sputums und verhelfen einem zu gut dotierten
Teilnahmeplätzen in internationalen Medizinstudien über Herzinsuffienz.
Viele
Mitbürger beneiden einen um diese lukrative Opferrolle, beispielsweise
Anwohner von anderen, völlig bedeutungslosen Messstellen, die
auch gern mal in der "Tagesschau" vorkommen wollen.
So etwas geht natürlich gar nicht.

Um
seinen Status als Opfer zu sichern, hilfts es allerdings, wenn
man als stilisiertes Opfer schummelt und erdoganisiert. Wenn
man seine Story wie einen Weihnachtsbaum im Trump-Tower mit
alternativen Glitzerfakten ausschmückt und vor sich herträgt.
Und auch den einen oder anderen Nazivergleich einstreut, was
immer passt. Je absurder der Vergleich und die Klage, desto
glaubwürdiger. Man badet in Empathiewellen, wenn man erzählt,
dass man bei Feinstaubalarm nur mit seinem Kanarienvogel das
Haus verlässt wie einst die Bergarbeiter, welche die Tierchen
als Warnvogel einsetzten. Hört man kein Zwitschern mehr, kehrt
man um, macht einen Tag blau ("dieselfrei") und bestellt
einen neuen Singvogel beim chinesischen Online-Händler.
Pech
nur, wenn man selbiges heuchelt und Vogelopferanwälte in der
Nähe sind oder Fans von Recep Tayyip Erdogan, bei denen es machtergreifend
piept. Dann eskaliert die Situation, wird man vom Opfer zum
Nazi degradiert und muss den Zug schleunigst beim nächsten Halt
mit Überstürzung verlassen. Und an allem ist wie immer die Bahn
schuld. Merkel. Die Medien. Oder die Grünen. Brüssel. Oder diese
verfluchten Nazis.
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