Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (14. August 2016)
 
Irgendwas mit Krokant
 

   Eine geisterhafte Stille hat sich der deutschen Innenstädte in dieser Woche bemächtigt. Die Energien, die dem Land international seine beneidete Spitzenposition beschert haben - Herzblut, Fleiss, analytischer Scharfsinn -, sind abgeflossen, haben das verzweigte Netz der Autobahnen geflutet, sich an den Alpenkämmen aufgstaut und schliesslich ihren Weg nach Süden erzwungen.



   Dort treffen all diese deutschen Kerntugenden auf Gesellschaften, die den verfeinerten Genuss, verbunden mit einer müden Einsicht in die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns, als Ideal kultivierten. Dort staunt man über die geordnete Zweierreihe der Urlauber am Abendbüffet und stellt verblüfft fest: Wo der Deutsche sein Zelt baut, wächst kein Gras mehr. Dieser Zusammenprall kann auf Dauer nicht gut gehen, weshalb alle froh sind, wenn die Ferien vorbei sind und jeder wieder in seine vertraute Welt eintaucht.

   Immerhin: In der Heimat verzieht sich der Dampf der Produktion, der Hysterie und politischen Raserei und lässt den Balkon für all jene als Refugium zurück, die sich dem Urlaubszwang entziehen. Der deutsche Balkon bietet gleichermassen Halt, Urvertrauen und geistige Entrückung. Man hat dort die Möglichkeit, Schopenhauers Aphorismen oder die Bundesliga-Ausgabe des "Kicker"-Magazins zu lesen und dabei den Kühlschrank mit den eingelagerten Biervorräten im Auge zu behalten.



   Vom deutschen Balkon aus wurden früher Reden gehalten, die die Welt in Angst und Schrecken versetzten. Heute aber meidet die brutalisierte und gottlose Aussenwelt den Balkon. Twitterwolken ziehen über ihn hinweg, Alltagsgebrüll wird nur als unaufgeregtes Murmeln wahrnehmbar. Unter dem Balkon herrscht sommerlich ausgedünntes Leben, atmet der Einzelhandel auf, haben Fahrräder und Gedanken plötzlich wieder Raum, dehnt sich die Zeit, werden Küsse ins Unendliche verlängert. Oben leuchten die Kondensstreifen der Urlaubsflieger und auf seinen paar Quadratmetern im dritten Stock sinniert der Mensch über die Liebe, den Tod und die Frage, welches Speiseeis den adäquaten sensorischen Reiz für den Sommer anbietet. Nuss mit Doubled Peanut Butter oder weisse Vanille Maracuja mit Pistazien und Eierlikör? Der entscheidungsfaule Balkon-Eremit kauft sich sicherheitshalber von jedem Geschmack einen Dreiliterbehälter. Selbstvergessen murmelt er einige Verse aus dem Maracuja-Sonett von Petrarca, summt Mozarts Registerarie "Mia cara Panna Cotta" vor sich hin und wirft Pistazien auf eine vorwitzige Taube.



   Eis und Schweiss tropfen von den Balkonbrüstungen auf die Strasse und finden ihren Weg schliesslich auch in die Zeitung. Der kleine Fleck links oben auf dieser Seite - das müsste irgendwas mit Krokant sein.

 

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