Eine geisterhafte Stille hat sich der deutschen
Innenstädte in dieser Woche bemächtigt. Die Energien, die dem
Land international seine beneidete Spitzenposition beschert
haben - Herzblut, Fleiss, analytischer Scharfsinn -, sind abgeflossen,
haben das verzweigte Netz der Autobahnen geflutet, sich an den
Alpenkämmen aufgstaut und schliesslich ihren Weg nach Süden
erzwungen.

Dort
treffen all diese deutschen Kerntugenden auf Gesellschaften,
die den verfeinerten Genuss, verbunden mit einer müden Einsicht
in die Vergeblichkeit allen menschlichen Tuns, als Ideal kultivierten.
Dort staunt man über die geordnete Zweierreihe der Urlauber
am Abendbüffet und stellt verblüfft fest: Wo der Deutsche sein
Zelt baut, wächst kein Gras mehr. Dieser Zusammenprall kann
auf Dauer nicht gut gehen, weshalb alle froh sind, wenn die
Ferien vorbei sind und jeder wieder in seine vertraute Welt
eintaucht.
Immerhin: In der Heimat
verzieht sich der Dampf der Produktion, der Hysterie und politischen
Raserei und lässt den Balkon für all jene als Refugium zurück,
die sich dem Urlaubszwang entziehen. Der deutsche Balkon bietet
gleichermassen Halt, Urvertrauen und geistige Entrückung. Man
hat dort die Möglichkeit, Schopenhauers Aphorismen oder die
Bundesliga-Ausgabe des "Kicker"-Magazins zu lesen
und dabei den Kühlschrank mit den eingelagerten Biervorräten
im Auge zu behalten.

Vom
deutschen Balkon aus wurden früher Reden gehalten, die die Welt
in Angst und Schrecken versetzten. Heute aber meidet die brutalisierte
und gottlose Aussenwelt den Balkon. Twitterwolken ziehen über
ihn hinweg, Alltagsgebrüll wird nur als unaufgeregtes Murmeln
wahrnehmbar. Unter dem Balkon herrscht sommerlich ausgedünntes
Leben, atmet der Einzelhandel auf, haben Fahrräder und Gedanken
plötzlich wieder Raum, dehnt sich die Zeit, werden Küsse ins
Unendliche verlängert. Oben leuchten die Kondensstreifen der
Urlaubsflieger und auf seinen paar Quadratmetern im dritten
Stock sinniert der Mensch über die Liebe, den Tod und die Frage,
welches Speiseeis den adäquaten sensorischen Reiz für den Sommer
anbietet. Nuss mit Doubled Peanut Butter oder weisse Vanille
Maracuja mit Pistazien und Eierlikör? Der entscheidungsfaule
Balkon-Eremit kauft sich sicherheitshalber von jedem Geschmack
einen Dreiliterbehälter. Selbstvergessen murmelt er einige Verse
aus dem Maracuja-Sonett von Petrarca, summt Mozarts Registerarie
"Mia cara Panna Cotta" vor sich hin und wirft Pistazien
auf eine vorwitzige Taube.

Eis
und Schweiss tropfen von den Balkonbrüstungen auf die Strasse
und finden ihren Weg schliesslich auch in die Zeitung. Der kleine
Fleck links oben auf dieser Seite - das müsste irgendwas mit
Krokant sein.
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