Ein Wort für die zurückliegende Woche?
Affektöser Kontrollverlust vielleicht, oder posttraumatischer
Emotionsfluor? Damit gaukeln wir analytisches Niveau vor und
nähern uns gefällig dem Leser, der diesen Schwindel natürlich
durchschaut. Dennoch hilft kühle Distanz, um all die Bilder
weinender junger Männer auszuhalten, die ganz Europa überschwemmten.
Die Endphase der Fussball-EM ertrank förmlich in einem Tränenmeer,
womit zunächst niemand gerechnet hatte. Bei keinem der 870 Vorrundenspiele
war es zu emotionalen Verwerfungen gekommen. Die Zuschauer grunzten
behaglich angesichts des Nicht-Geschehens auf dem Platz, spülten
Geschirr ab, kehrten zurück und hatten nichts verpasst, schliefen
ein, gingen in irgendeine Verlängerung, telefonierten, verliebten
sich im Internet, planten längst fällige Reparaturen im Haus
und zählten mit blödem Gesichtausdruck Rückpässe und Fünferketten.

Das
hätte noch Jahre so weitergehen können - Pläne der Fifa gehen
tatsächlich in diese Richtung -, doch dann war unversehens Schluss.
Die Portugiesen weinten, Ronaldo (Cristiano doloroso) insbesondere
vergoss die schönsten Tränen seit dem heiligen Laurentius, es
weinten auch die Franzosen, nachdem die Tränen der Deutschen
bereits die Gestade des Mittelmeers getränkt hatten. Der Riese
Boateng zerfloss in Tränen, dick wie Kastanien, der kleine Griezmann
schniefte bis in die entlegensten Departements hinein, auch
die zerfurchte Physiognomie des Bundestrainers entliess Salziges,
auf den Fanmeilen weinten Menschen, Tiere und Autos. Die Tränendrüsen
der Nation arbeiteten unter Volllast, Tränensäcke waren in den
Baumärkten ausverkauft. Deutschlands pH-Wert stieg auf 7,4,
die nationale Viskosität Frankreichs überstieg die von nativem
Olivenöl.

Mitte
der Woche hatte sich die Welt ausgeweint. Ermahnende Wortwolken
ballten sich am Firmament zusammen "Löw muss jetzt ...
Schweinsteiger muss auch ... Götze muss wissen ... muss jetzt
alles neu ... wird man umdenken müssen ... muss ein Neuanfang
... kann es ein Weiter-so nicht geben ... muss jetzt die Verjüngung
... taktische Blamage ... Neueinrichtung ... Generationswechsel
... nur noch Deutsche ... jetzt schon ... und überhaupt ...
Schluss ... aus."
Dann kehrte
Ruhe ein. Menschen gingen zögernd wieder auf die Strasse, blinzelten,
fingerten Chips aus den Achselhöhlen und kickten gegen eine
leere, säuerlich riechende Bierdose. Im Rinnstein liegt eine
zerschlissene Nationalfahne. Das Gebrüll der Arenen sandte noch
einige Spätechos in die Fussgängerzonen, der Mensch war still
und genügsam und dachte sogar daran, eine Blume zu pflücken.
"Die Welt braucht jetzt Frieden", sagte der Krakauer
Kardinal Stanislaw Dziwisz. Er meinte den bevorstehenden Weltjugendtag.
Dort werden viele junge Menschen in den Stadien zusammenkommen.
Tränen? Vielleicht.
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