Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (04. Oktober 2015)
 
Lesen und gelesen werden
 

   Ganz Deutschland ist ausser sich. "Wir haben es geschafft," hiess es aus dem Kanzleramt. Demografen rechnen stündlich mit einem sprunghaften Anstieg der Geburtenrate, die Post plant Sondermarken für Standardbriefe, die so viel kosten wie eine VW-Aktie. Ökonomen prognostizieren ein Wirtschaftswunder in Duisburg-Marzloh, den Anschluss Oberbayerns an Ungarn sowie Vollbeschäftigung für Imame, Schleusser, Gutmenschen und Germanisten mit dem Nebenfach Willkommenskulturwissenschaften.



   Endlich. Nach Jahren zahlloser Talkshows-Abende mit Hofschranzen der Berliner Republik feierte das Volk die Rückkehr des "Literarischen Quartetts" wie den Besuch der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland - und eines vierten, der seit seiner Einreise noch nicht registriert wurde. Trotzdem: Eine siechende Kulturnation (Gruppe 4711, Hellmuth Karasek, Aldi-Musik-Flatrate) schöpft Hoffnung.

   Für all jene, die höchstens noch die Bedienungsanleitung ihres neuen iPhones oder das Horoskop von der Sonntagszeitung zu lesen imstande sind: Das "Literarische Quartett" war kurz nach dem Krieg das Oktoberfest für Kastenbrillenträger, der Golf GTI unter den Literatursendungen. Worum ging es in dieser illustren Fernsehrunde? Anscheinend um Bücher. In Wirklichkeit drehte sich alles um bewusstseinserweiternde Krawattenmuster, rutschende Herrensocken, unkontrollierten Speichelfluss, Sexismus gegenüber einer Österreicherin - und um öffentliche Hinrichtungen von talentierten Dichtern und Denkern.

   Dieses überaus erfolgreiche Konzept dient seit Jahrzehnten als Blaupause für Schauprozesse aller Art in Saudi-Arabien und Nordkorea. Schon deshalb bot sich eine Neuauflage des Originals im feuilletonfreundlichen deutschen Fernsehen an (Kürbissendungen, Jauch). Wie zu besten Zeiten wurden irgendwelche aktuellen Bücher ohne vorherige Lektüre in Grund und Boden rezensiert.



   Etwa das Jugendwerk von Ursula von der Leier. Ihre zärtlich blonde Novelle mit dem Titel "Blasensprung später" ist ein Schlüsselwerk der niedersächsischen Gynäkologenliteratur. Zahllose Anspielungen und Zitate lenken den Leser von der wahren Geschichte ab, die ohnehin keine Rolle spielt. Oder der 156-seitige Wirtschaftskrimi des nicht umstrittenen Autors Martin Wunderkorn, einem Stipendisten der Villa Wolfsburg. Schon der Name provoziert mit seiner Kaltschnäuzigkeit: "Nachhaltigkeitsbericht 2015". Ein toxischer Romman voller Wortschwaden, turbulenter Rückrufaktionen und Zahlendreher. Dem Leser stockt der Atem. Ein Meisterwerk des magischen Abgasrealismus. Durchgefallen bei der Kritik ist allerdings die Nonsenslyrik des bayrischen Mundartdichters Markus S. Öderl. Sein Herbstgedicht "Zaun" beginnt mit den Versen "Die Sonnenblumen leuchten am Grenzzaun / Friedlich sitzen drüben fremde Männer und Frau'n". Eine Kakafonie sondergleichen. Oder mit dem seligen Marcel Reich-Reinicki gesprochen: "Die meisten Dichter verstehen von Literatur nicht mehr als Vögel von Ornithologie."

 

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