Europa wärmt sich auf. Die
Menschen, die sich eben noch klammschaudernd aneinandergepresst
haben, atmen tief durch und und spenden ihre langen Unterhosen
einem afrikanischen Krisenstaat. Der alte Kontinent kommt in
Fluss. Hatte der Eishauch der Weltpolitik über Monate hinweg
jedes menschliche Wesen zum Erstarren gebracht, die Menschen
um Notaufnahme in den Saunalandschaften irgendwelcher Industriegebiete
betteln lassen und Südeuropa in starres Büssertum versetzt,
geraten die Elemente in Bewegung. Die grosse Schneeschmelze
setzt ein und bringt wieder alles zum Vorschein, was vom vergangenen
Jahr übrig blieb: Verflossene Liebhaber, vergessene Einkaufszettel,
verlegte Autoschlüssel, verdrängte Pflichten und Aufgaben, nie
vorgetragene Gedichte, verschleppte Krankheiten, ignoriertes
Soll und Haben. Sogar die FDP befreit sich vom Eise durch des
Frühlings belebenden Blick. Längst vergessen geglaubte gelb-blaue
Politiker recken ihre Köpfe aus dem kalten Grab der politischen
Vergessenheit und zünden die Lichter ihrer Apotheken an.

Warum
der Schnee jetzt schmilzt, ist ungeklärt. Experten vermuten,
dass der wärmende Verdauungsvorgang der vielen Hunde eine entsprechende
Reaktion auslöst (Taedium Nivis: Schneeekel). Oder sind es die
faulen Kompromisse der Politik, die die Luft modernd erwärmen?
Andere gehen davon aus, dass die sensiblen Schneekristalle beim
Anblick gemästeter Bürger, die zum ersten Mal die Terassen der
Mittelschichtsiedlungen bevölkern, panikartig zusammenschnurzeln.
Es ist zum Fürchten, doch bisher haben weder Politiker noch
Klimaforscher ein Rezept dagegen gefunden, um das Zurückweichen
des Schnees zugunsten von Schlamm und feuchter Fröhlichkeit
zu verhindern.
So schmilzt alles weiter
vor sich hin. Es schmelzen die Barreserven der Banken, es schmelzen
das schlechte Gewissen und das gute Benehmen. Alles wird flüssig
- ausser den Griechen. Man brauche Zeit, heisst es in Athen,
um die Voraussetzungen für eine eigene Schneeschmelze zu schaffen.
Ein paar Monate, dann sei das Land ein kraftstrotzender Gletscher,
in dessem Inneren die korrupten Figuren der griechischen Geschichte
für immer eingefroren wären. Nur ihre Konten würden aufgetaut.
Angesichts solcher Prognosen schmilzt sogar in Brüssel die technokratische
Kälte. Der deutsche Finanzminister sendet in einem unbeobachteten
Moment einige Kilojoule an Wärme in Richtung Athen ab. Dann
zieht er sich, der grimmige Winter, in die rauen Berge zurück
- dorthin, wo kein Hauch des Frühlings hinfindet und säumige
Schuldner in zugigen Verliesen bibbern.

Wohin
das Tauwetter führen soll, ist nicht abzusehen. Wenn alles taut,
gerät die Welt ins Rutschen. Europa löst sich von sich selbst,
zerfällt in Platten, die nach Süden treiben. Dort ist es warm,
blinken farbige Kleider, jauchzt zufrieden Gross und Klein.
Am Ende der grossen Schneeschmelze sind wir alle Griechen, frech
und unverwundbar. Doch hinter dem blauen Horizont dämmert schon
der nächste Winter. Wohl dem, der dann noch Schuldscheine hat,
die er verbrennen kann.
|