Deutschland bebte in dieser
Woche unter der Wucht der grössten Sondierung aller Zeiten.
Aus allen Landesteilen strömten Revolutionäre, Idealisten, Strategen,
Intriganten, Verleumder, Parvenüs, Karrieristen, Apostaten,
Schmeichler, Verräter, Funktionäre, Steuerhinterzieher, Durchstecher
und Höflinge ins Berliner Olympiastadion. Um eine zügige Verhandlungsführung
zu ermöglichen, zugleich aber den Eindruck einer Geheimveranstaltung
zu zerstreuen, dürfen genau 6734 Teilnehmer pro Partei am Tisch
sitzen. Jeder hat Anspruch auf vier Berliner Currywürste pro
Tag, drei Scheffel Tabak und vier Liter Bier (hier hatte sich
im Vorfeld die CSU durchgesetzt).

An
den ersten Tagen umkreisten sich die Parteigänger und beschnüffelten
sich, um anschliessend Sätze wie "Haben wir einen Rahmen
abgesteckt ... brauchen Einigkeit über wichtige Zukunftsinvestitionen
... sehen wir ähnliche Probleme ... sind wir in der Frage von
Steuererhöhungen prinzipiell verhandlungsbereit" zu entlassen.
Draussen im Land wurde jeder dieser Sätze bejubelt, vermittelte
er doch die Hoffnung auf ein starkes, gerechteres und in der
Welt angesehenes Deutschland.
Die
Grosse Berliner Sondierung stützt sich auf historische Vorbilder:
Allen voran die Sondierung von Trient im Jahr 1344 (Grande Sondazione
mondiale della ecclesia serenissima und so weiter) und verschiedene
erfolgreiche Geheimsondierungen der Neuzeit, bei denen sich
Diktatoren die Hände reichten und das Blut aufgeteilter Kleinstaaten
tranken (Russisch: "Sondatschuk"):
Das
festliche Berliner Gepränge ist davon natürlich weit entfernt.
Die CDU mobilisierte ihre Toten Hosen in allen Landesteilen,
die unter den Fanfaren der Undendlichkeit einmarschierten. DIe
SPD liess kohlenstaubgefärbte Bergmannsvereine einrücken, die
CSU verliess sich auf die Wucht der Blaskapelle Traunstein,
die bereits bei der Verteidigung des Freistaats gegen die Befürworter
des Rauchverbots einen furchtbaren Blutzoll entrichten musste.
Die Grünen schickten 2000 Biomöhren aus dem Realo-Lager. Als
ob das nicht genügte, war die Luft so erfüllt von den Twittermeldungen
Sigmar Gabriels, dass sich die Sonne verfinsterte. Obwohl der
Vorrat an Geheimtinte schmilzt, herrschte diese Woche eine gelöste
Stimmung. Und als die Wogen doch einmal hochgingen, wurde rasch
das zerfurchte Gesicht Wolfgang Schäubles auf den Videoleinwänden
eingeblendet.

Doch
es gilt: Keiner der Teilnehmer darf das Olympiagelände verlassen,
bevor nicht weisser Rauch aufsteigt, der anzeigt, dass die ersten
Ministerposten vergeben sind. Da jedem Teilnehmer eine Redezeit
von 23 Minuten zugesprochen wird, dürfte sich die historische
Berliner Sondierung einige Jahre hinziehen. Derweil blüht das
regierungslose Land und gedeiht, Menschen arbeiten und verlieben
sich, Verbrechen werden begangen und Kinder geboren. Im Rund
des Stadions hat man die ersten 134 von 560000 Tagesordnungspunkten
abgearbeitet. Doch man sei noch weit auseinander, heisst es.
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