Toleranz war gestern. Heute
ist Tiefentoleranz gefragt. Das Stichwort tauchte neulich (in
der modischen Schreibweise "tiefenToleranz") im Zusammenhang
mit der Schwulen- und Lesbenparade Christopher Street Day in
Stuttgart auf, einer heissen Mischung aus Karneval in Rio und
Coming-out am Nesenbach.
Es fiel mir
schwer, diese Wochen konzentriert zu arbeiten. Ständig kreisten
meine Gedanken um mein Toleranzvermögen. Bin ich nur oberflächlich
tolerant? Oder reicht meine Toleranz bis unter die Haut? Kommt
sie von innen?

Ich
glaube, das Problem mit der Tiefentoleranz berührt nicht nur
den Bereich der sexuellen Vorlieben. Richtig zu Ende gedacht,
stellt sie auch andere Lebensbereiche infrage. Spende ich an
Amnesty International und Greenpeace, um mein schlechtes Gewissen
zu beruhigen? Oder stehe ich mit Haut und Haaren hinter den
Organisationen? Bis zur Klärung sollten Sie sämtliche Zahlungen
einstellen.
Mich treibt die Frage um,
wie ernst der "Ich bremse auch für Tiere"-Aufkleber
auf meinem Wagen gemeint ist. Bremse ich, um Tierleben zu retten?
Oder mache ich es, weil es mir um ein Vehikel geht, das ich
mir gekauft habe, um Eindruck zu schinden? Einen Hund, der auf
die Strasse läuft, ist es egal, warum ich in die Eisen trete.
Mir nicht.
Wie so oft, wenn man es
wirklilch mal braucht, lässt einen das Internet in essenziellen
Lebensfragen im Stich. Auf der Suche nach Entscheidungshilfen
bin ich bei Wahlomaten und Flugpreisportalen gelandet, einen
Toleranzmesser fand ich nicht. Das einzige´, wodrauf ich stiess,
war eine Kollektion von Zero-Tolerance-Messern, teuflich scharfe
Werkzeuge für Berufssoldaten, Polizisten, Feuerwehrleute, Mitglieder
von Rettungsbrigaden und medizinisches Hilfspersonal. Die Messer
sehen martialisch aus. Man mag sich nicht vorstellen, wenn sie
in die Hände nichttoleranter Menschen fallen.
Schlage
vor, solange die Unterstützung aus dem Netz fehlt, stelle sich
jeder selbst auf die Probe. Ich habe mich etwa gefragt: Bin
ich wirklich gegenüber Menschen mit anderer sexueller Orientierung
so tolerant, wie ich mich immer behaupten höre? Könnte ich mir
vorstellen, eine Frau, die Frauen liebt, in meiner Nähe zu ertragen?
Sagen wir mal so: Solang die Frau einen Wahnsinnskörper und
einen guten Charakter besitzt, mir meine Gelüste von den Augen
abliest, ordentlich Kohle heimbringt und der Hausarbeit nicht
abgeneigt ist - warum nicht? Bei Männern mit homoerotischer
Neigung hätte ich eher ein Problem. An der Stelle herrscht moch
Toleranzbedarf - nicht nur in der Tiefe.

Der
Ruf nach Tiefentoleranz weckt Erinnerungen an die gute alte
Zeit der TV-Reklame. Das Zeug, das aus der Waschmaschine komme,
müsse "nicht nur sauber, sonder porentief rein" sein,
forderte die Klementine. Aus heutiger Sicht war die Frau eine
Domina, die uns an die Wäsche wollte. Statt Lack und Leder trug
sie eine weisse Latzhose. Damals habe ich das toleriert.
|