Ich bin nicht Kohler. Oder
Kohl. Ich arbeite auch nicht bei der Deutschen Bahn. Ich möchte
dies an dieser Stelle einmal klarstellen, auch mir selbst gegenüber.
Selbst mir sind nämlich in den vergangenen Wochen Zweifel gekommen,
ob ich nicht vielleicht doch Herr Kohler bin. Oder Herr Kohl.
Gut
möglich, dass ich verrückt werde. Vielleicht bin ich es schon.
Hab ich doch jetzt tatsächlich den ersten Satz aus Max Frischs
Roman "Stiller" geklaut - ein klarer Fall von Grössenwahn.
Die Frage nach der eigenen Identität - ein kleiner Journalist
versucht sich an ganz grosser Literatur. Oder ein kleiner Bahnangestellter,
so sieht man mich neuerdings. Und schuld an allem ist Herr Kohler.
Oder Herr Kohl. Ich muss vorsichtig sein. Vielleicht stecken
ja noch ganz andere dahinter: CIA, Mossad, keine Ahnung.

Es
gab Anrufe, so viel kann ich sagen. Anrufe auf meinem Privathandy.
Die Nummer ist so geheim, die kenne ich selbst nicht. Man muss
seine Nummer nicht kennen, um telefonieren zu können. Wenn ich
sie weitergeben will, dann schaue ich in meinem Telefonverzeichnis
unter "eigene Rufnummer" nach und vergesse sie gleich
wieder. Die Nummer ist zu lang, um sie sich zu merken. Wer jetzt
darauf hinweist, dass meine Frau und meine Kinder die Nummer
haben, dem sage ich: Ja, das ist ja der Sinn der Sache, Privathandy!
Nur für Privatgespräche! Und lassen Sie verdammt noch mal meine
Familie aus dem Spiel!
Der erste Anrufer
hatte gleich drauflos geplappert; "Ja, Herr Kohler, vielen
Dank für die Unterlagen, ich hätte da noch ein parr Nachfragen
..." - "Entschuldigung", unterbrach ich ihn,
"ich bin nicht Herr Kohler, Sie haben sich verwählt."
- "Oh", sagte der Anrufer, "das tut mir leid."
Aber
er hatte sich nicht verwählt. Und all die anderen, die ihm folgen
sollten, auch nicht. Herr Kohler von der Deutschen Bahn hatte
offensichtlich vor ein paar Wochen in einer E-Mail an mehrere
Geschäftspartner seine Handynummer angegeben, die aber meine
ist. Meine, meine, meine! Das weiss ich ganz genau. Nur in einem
Punkt könnte es sein, dass ich Herrn Kohler Unrecht tue. Vielleicht
heisst er auch Herr Kohl, das hört man am Telefon nicht genau.
Ich habe auch nie nachgefragt, wie ich denn jetzt richtig heisse,
wie hätte das denn ausgesehen! Meine Gesprächspartner und ich
waren schon verwirrt genug.

Ich
bin nicht Herr Kohler. Ich will auch nicht Kohler sein. In Daniel
Kehlmanns Roman "Ruhm" wird so ein langweiliger Typ
wie ich plötzlich von fremden Menschen angerufen, weil seine
angeblich neue Handynummer tatsächlilch bereits vergeben ist.
Aber da rufen rassige Frauen an, die sich in eindeutiger Absicht
treffen wollen. Der langweilieg Typ wird in der ersten Episode
des Romans mit einem Draufgänger verwechselt, und das gefällt
ihm irgendwann so, dass er in die neue Rolle schlüpft. Ich hingegen
wäre nur der Herr Kohler von der Bahn. Das ist für mein zweites
Leben nicht aufregend genug - selbst wenn Herr Kohler mit Stuttgart
21 beschäftigt sein sollte.
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