Alle Jahre wieder erinnert
uns die Buchmesse an all die spannenden Bücher, die man unbedingt
mal lesen wollte. Die "Bibel". Den "Turm".
Die Gebrauchsanleitung für den Nasenhaartrimmer. Doch so oft
kam was dazwischen, lag auf dem Nachttisch statt d er Lesebrille
der Abschiedsbrief der Liebsten oder ein toter Hamster. Schrecklich.
Doch genau deswegen lohnt sich die Lektüre wieder, auch weil
das Leben wie das Leben selbst so herrlich sinnlos ist. Literatur
darf und soll wieder wehtun - wie die Migräneattacke nach dem
Öffnen der Nebenkostenabrechnung. Unser Feuilletonist - Absolvent
des Schreibworkshops "Herbst oder Die Poetik der blickdichten
Strumpfhose" und Ehrenvorsitzender im Iris-Radisch-Fanclub
Stuttgarter Halbhöhe - hat die schmerzhaftesten Neuerscheinungen
der Saison für Sie ausgewählt.

Da
wäre etwa die "Schachnovelle" von Peter Steinglück,
eine beklemmende Ich-Dekonstruktion in 34 Zügen. Der Held, ein
Politzocker und abgebrannter Vortragsreisender, spielt noch
einmal das Spiel seines Lebens. Nach einem wagemutigen Springer-Opfer
(Steinmeier-Gambit) glaubt er lange Zeit, er sei ein König,
dorch wird er im gnadenlosen Endspiel als Bauer gegen eine dickliche,
hundeäugige Dame ausgetauscht. der kafkaeske Text ist eine dezidierte
Absage an jegliche Sozialromantik und Interpunktion. Konsequent
verwechselt der Begabte Jungautor (65) Stile und Perspektiven.
Höhepunkt der Novelle ist der Epilog: Zwei unfrankierte Bettelbriefe
an Post und Siemens. Hilfeschreie ins nichtige Dunkel. Leises
Blätterrauschen als Antwort, nur das. Grossartig.
Ähnlich
zielstrebig kommt auch Ursula von der alten Leier in ihrem pikanten
Bestseller "Shades of Grey. Spätes Verlangen" zur
Sache. Grey, ein 117-jähriger Silver Ager mit digitaler Demenz
und unstillbarem Sexappetit, treibt sein Unwesen in den Schwesternzimmern
deutscher Altenheime. Ähnlich wie in ihrem geriatrischen Hardcore-Krimi
"Trockengebiete" setzt die Autorin auch in diesem
speichelfördernden Roman auf Provokation. Statt sein Leben Kuchen
und Wurstaufschnitt zu widmen, investiert der Lustmolch seine
Zusatzrente in Viagra. Eine wahrhaft lebenspralle Abrechnung
mit den moralischen Codes unserer Zeit, die in ihrer Radikalität
an den jüngsten Schrumpfbericht des Demografie-Gipfels oder
Charlotte Froschs erotische Rezeptesammlung "Backpflaume,
später" erinnert. Grossartig.

Auch
ein grosser Wurf: "On the Road" von Jack Kräuterquark.
Die Neuübersetzung liest sich schneller als als das Original,
auch weil sich der Verlag alle Konsonanten gespart hat. Die
Erzählung kreist um einen autistischen Formel-1-Rennfahrer namens
Schumi, der die Ausfahrt verpasst hat und plötzlich wie alle
anderen auf der A 8 im Stau steht. Dann passiert nichts mehr.
Grossartig.
Die einzige Frage ist nur,
was der tote Hamster in dieser Kolumne soll. Und was, wenn es
gar kein Hamster war, sondern eine ermordete Leseratte? Ein
blindes Motiv? Die Augenbrauen von Martin Walser? Lesen Sie
wohl.
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