Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (22. April 2012)
 
Die Avantgarde auf dem Rad
 

   Seit in Talkshows, Politzirkeln und bildungsfernen Familien Doping freigegeben wurde, ist - so wie in dieser Woche - halb Deutschland auf dem Fahrrad unterwegs. Früher waren Radfahrer die Parias der Gesellschaft. Sie durften von jedem, der schlechte Laune und eine Zehner-Erlaubniskarte des Ordnungsamt hatte, mit altem Obst beworfen oder von der Strasse auf einen mit zersplitterten Bierflaschen und toten Kleintieren übersäten Radweg gedrängt werden.



   Heute dagegen gilt es bei den Urban Professionals als chic, wenn sich im ersten Meeting der Anzugstoff von Strellson mit einer herben Schweissnote mischt. Politiker torkeln für die Kameras minutenlang auf eilfertig bereitgestellten Tourenrädern herum und lassen sich dann ächzend in die Fauteuils ihrer Dienstwagen sinken. Radkuriere befördern bis zu 456 Massendrucksachen durch die Innenstädte, Muttis schleppen Kinder mit angstverzerrten Gesichtern über die Radwege - und alle fühlen sich als gesellschaftliche Avantgarde.

   Für die Leser eines Zeitgeistmediums wie dieser Kolumne ist es im Frühling wichtig zu wissen, wie der Radfahrer politisch und gesellschaftlich verortet werden kann. Die Grünen, als Pioniere des benzinfreien Zweiradverkehrs, setzen bei ihren Rädern auf Bambusrahmen und ölen die Kette mit einem Extrakt aus Kakaobohnen der Solidaritätsstufe 1B. Banker, die in ihrem Lifestylemagazinen gelesen haben, dass Retro-Bikes chic sind, lassen sich in Berlinern Hinterhöfen Stahlrahmen zusammenschweissen und fahren dann ungebremst in die nächste Krise. Radelnde Hinterbänkler der bürgerlichen Parteien sind besonders gefährlich, weil sie jedes Bremsmanöver mit ihrer Fraktion abstimmen müssen. FDP-Politiker fahren GPS-gestützt jedem Mitelständler hinterher. Weil die Entfernungen zwischen ihren Wählern immer grössser werden, wirken sie erschöpft und verbittert, sind aber bombig in Form. Piraten gehen technologisch voran und haben den Antrieb auf W-Lan umgestellt. Damit entfällt die lästige Kette.



   Wer zu Frühjahrsbeginn mit dem Radfahren beginnen will, sollte sich mit individueller Kleidung von der Masse abgrenzen. Kompressionsunterhemden etwa pressen jede Bauchfalte auf ein Tausendstel ihres Volumens zusammen - sie kann auch vom Laien danach mit der Fahrradpumpe wieder in den Normalzustand gebracht werden. Wer sich zum ersten Mal die Beine rasieren will, zieht sich in den Winkel einer aufgegebenen Schlecker-Filiale zurück und wischt danach einmal feucht durch. Grundsätzlich gilt: Wer radelt, muss kräftig essen! Hähnchen im Schwiessbad oder blasierte Nudeln im buttrigen Tretlager sind Klassiker der Radküche. Reiskugeln, gefüllt mit einem Amalgan aus alten Fahrradreifen, können nich nur verzehrt, sondern auch auf aggressive Autofahrer geschleudert werden. Bei jugendlichen Grossstadtradlern ist Dreierlei vom Hanf angesagt - das wirkt gleichermassen enthemmend wie entwässernd. Mit diesen Tipps entlassen wir sie in die postmoderne Zweiradhölle.
 

 

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