Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (18. Dezember 2011)
 
   Das Zelt regiert die Welt
 

   Nachdem die Fernsehanstalten die Menschen, Ereignisse und sonstigen Peinlichkeiten des Jahres weitgehend abgefrühstückt haben, richten wir unser Augenmerk auf die Behausung des Jahres. Wenn es eine Unterkunft gibt, die dem Jar 2011 ihren Stempel aufgedrückt hat, dann ist es das Zelt.

   Aber stopp, bevor jetzt die Festwirte ein Fass aufmachen oder Zirkusdirektoren zum Tusch aufspielen lassen: Eure Zelte sind nicht gemeint. Die sind mehr Festung als temporärer Bau. Wenn wir Zelt sagen, dann meinen wir eine schlichte Ein- bis Zweimannbehausung, die, je nach Geschick, in Minuten bis Stunden errichtet ist.

   Egal, wo es auf Erden revolutionär brodelt und Fortschrittsgedanken sich Bahn brechen, ob es in Manhattan gegen Spekulanten oder in Stuttgart gegen Tiefbahnhöfe geht, das Zelt war stets zur Stelle, wenn Bewegung in die eingefahrene Chose kam. Soziologen haben bereits die Nomadisierung weiter Gesellschaftsschichten ausgemacht, die seit Jahrtausenden als sesshaft galten. Das freut neben Campingausrüstern vor allem Camper, die jahrzehntelang als Spiesser belächelt, auf Sparflamme vor ihren Kleinstbiwaks herumgeköchelt haben.



   Inzwischen zelt das Zelt wieder etwas in der Welt. Es ist zum Zeichen für Aufbruch geworden und wird von kapitalismuskritischen Besserverdienern als Statussymbol hochgehalten. "Mein Auto, mein Haus, mein Boot" war gestern. Wenn heutzutage zwei ehemalige Schulkameraden aufeinandertreffen, dann geht es so: "Mein Fahrrad, mein Zelt, mein Gummiboot." Mobile Minderheiten? Das war einmal. Jetzt macht die Masse mobil.

   Auch in diesem Fall ist unsere Redaktion bemüht, auf der Höhe der Zeit zu sein. Sie wollte - um es mit Reinhold Beckmann zu sagen - fühlen, wie es sich anfühlt, die Welt aus der Grasnarbenperspektive zu betrachten. Aus diesem Grund sind wir vor Monaten bereits in Zelte umgezogen. Der Vorschlag, sich ins gemachte Bett zu legen und sich im Stuttgarter Schlossgarten niederzulassen, wurde in einer betriebsinternen Volksbefragung abgelehnt. Man wollte politisch unabhängig bleiben.

   Nach einem langwierigen Findungsprozess sind wir zu folgender Lösung gelangt: Die Reiseredaktion schlägt ihr Igluzelt "Inuit" in Flughafennähe auf, die Autoredaktion ihr sturmsicheres Tunnelbiwak "St. Gotthard" auf dem Grünstreifen der A 8. Die Kollegen vom Sport campen an den spielfreien Tagen auf dem Rasen in der Mercedes-Benz-Arena. Die Politikredaktion grast auf dem Grün vor dem baden-Württembergischen Landtag. Nur die Chefredaktion hält auf dem Gelände des Pressehauses die Stellung, standesgemäss in einem ausrangierten Beduinenzelt, das früher mal von einem gewissen Gaddafi bewohnt war. Aus humanitären Gründen haben wir auch die weibliche Leibgarde des Vorbesitzers übernommen.

   Das Zelt als die kleinste Schutzhülle und Wohneinheit hat inzwischen sogar unter Freidemokraten Sympathisanten gefunden. Die FDP liebäugelt mit ihrer Idee, ihr traditionelles Dreikönigstreffen in Stuttgart dieses Mal in einem Zweimannzelt abzuhalten.
 

 

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