Nachdem die Fernsehanstalten
die Menschen, Ereignisse und sonstigen Peinlichkeiten des Jahres
weitgehend abgefrühstückt haben, richten wir unser Augenmerk
auf die Behausung des Jahres. Wenn es eine Unterkunft gibt,
die dem Jar 2011 ihren Stempel aufgedrückt hat, dann ist es
das Zelt.
Aber stopp, bevor jetzt die
Festwirte ein Fass aufmachen oder Zirkusdirektoren zum Tusch
aufspielen lassen: Eure Zelte sind nicht gemeint. Die sind mehr
Festung als temporärer Bau. Wenn wir Zelt sagen, dann meinen
wir eine schlichte Ein- bis Zweimannbehausung, die, je nach
Geschick, in Minuten bis Stunden errichtet ist.
Egal,
wo es auf Erden revolutionär brodelt und Fortschrittsgedanken
sich Bahn brechen, ob es in Manhattan gegen Spekulanten oder
in Stuttgart gegen Tiefbahnhöfe geht, das Zelt war stets zur
Stelle, wenn Bewegung in die eingefahrene Chose kam. Soziologen
haben bereits die Nomadisierung weiter Gesellschaftsschichten
ausgemacht, die seit Jahrtausenden als sesshaft galten. Das
freut neben Campingausrüstern vor allem Camper, die jahrzehntelang
als Spiesser belächelt, auf Sparflamme vor ihren Kleinstbiwaks
herumgeköchelt haben.

Inzwischen
zelt das Zelt wieder etwas in der Welt. Es ist zum Zeichen für
Aufbruch geworden und wird von kapitalismuskritischen Besserverdienern
als Statussymbol hochgehalten. "Mein Auto, mein Haus, mein
Boot" war gestern. Wenn heutzutage zwei ehemalige Schulkameraden
aufeinandertreffen, dann geht es so: "Mein Fahrrad, mein
Zelt, mein Gummiboot." Mobile Minderheiten? Das war einmal.
Jetzt macht die Masse mobil.
Auch in
diesem Fall ist unsere Redaktion bemüht, auf der Höhe der Zeit
zu sein. Sie wollte - um es mit Reinhold Beckmann zu sagen -
fühlen, wie es sich anfühlt, die Welt aus der Grasnarbenperspektive
zu betrachten. Aus diesem Grund sind wir vor Monaten bereits
in Zelte umgezogen. Der Vorschlag, sich ins gemachte Bett zu
legen und sich im Stuttgarter Schlossgarten niederzulassen,
wurde in einer betriebsinternen Volksbefragung abgelehnt. Man
wollte politisch unabhängig bleiben.
Nach
einem langwierigen Findungsprozess sind wir zu folgender Lösung
gelangt: Die Reiseredaktion schlägt ihr Igluzelt "Inuit"
in Flughafennähe auf, die Autoredaktion ihr sturmsicheres Tunnelbiwak
"St. Gotthard" auf dem Grünstreifen der A 8. Die Kollegen
vom Sport campen an den spielfreien Tagen auf dem Rasen in der
Mercedes-Benz-Arena. Die Politikredaktion grast auf dem Grün
vor dem baden-Württembergischen Landtag. Nur die Chefredaktion
hält auf dem Gelände des Pressehauses die Stellung, standesgemäss
in einem ausrangierten Beduinenzelt, das früher mal von einem
gewissen Gaddafi bewohnt war. Aus humanitären Gründen haben
wir auch die weibliche Leibgarde des Vorbesitzers übernommen.
Das
Zelt als die kleinste Schutzhülle und Wohneinheit hat inzwischen
sogar unter Freidemokraten Sympathisanten gefunden. Die FDP
liebäugelt mit ihrer Idee, ihr traditionelles Dreikönigstreffen
in Stuttgart dieses Mal in einem Zweimannzelt abzuhalten.
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