Ist es noch weit? Diese
ins Philosophische hineinreichende Frage löst bei vielen Deutschen
derzeit Herzrasen und Schüttelfrost aus. Ihnen steht die härteste
Herausforderung der arbeitsteiligen Gesellschaft bevor: Der
Urlaub. Dieses Ritual beginnt grundsätzlich um Punkt 4.30 Uhr
mit einem hunderttausendfachen elektronischen Weckruf. In das
Geräuschpanorama des erwachenden Deutschlands mischt sich alsbald
der dumpfe Akzent von Kinder, die vor Müdigkeit umfallen. Erfahrene
Eltern haben sie deshalb in Decken eingewickelt und am Vorabend
ins Auto gepackt.
5.30 Uhr: Die Suche
nach wichtigen Reiseunterlagen beginnt. Sie befinden sich immer
im grossen roten Koffer unten rechts im Kofferraum. Über dem
stapeln sich kleine grüne und mittelgrosse braune Koffer, helle
Reisetaschen, Schlauchboote, Rucksäcke, Säcke, Kühltaschen,
Gartengrills, Fliegenklatschen, Fahrräder, Inlineskates. Wer
mit beiden Händen in der Gepäcklandschaft herumwühlt, bekommt
alsbald etwas Weiches zu fassen - die Kuscheltiere der Kinder.
Man wirft sie kontrolliert hinter sich und hat bald vergessen,
was man eigentlich gesucht hat.
6.00
Uhr: Hunderttausende Mittelschichtkombis begeben sich auf eine
Fernstrasse, die meistens A 8 heisst. Ein Asphaltband, das um
diese Unzeit normalerweise von Hasen, Liebespaaren und Radfahrern
bevölkert wird, verwandelt sich in eine Rollbahn, auf der sich
Fahrzeuge in einem Tempo bewegen, das dem der Wehrmacht in den
späteren Jahren des Ostfeldzugs entspricht. Allerdings ist die
Entschlossenheit der Fahrzeugbesatzungen, bis zum Endziel durchzubrechen,
weit grösser. Noch.

12.30
Uhr: Die Frage "Ist es noch weit?" bekommt angesichts
der nur minutenweise geöffneten Transferschläuche, die Schweizer
und Österreicher in die Alpen getrieben haben, neue Aktualität.
Gelassene Fahrer antworten mit dem Wort "Der Weg ist das
Ziel", das nach vorläufigen Recherchen auf Konfizius zurückgeht,
den Erfinder der Konfusionstheorie. Dieser hatte seinen Willen
auf das Dao, also den Weg, gerichtet. Das Dao ist je nach Lage
der Dinge ein Urinal oder ein staubiger Autogrill an der hitzeglostenden
italienischen Autostrada. Das endgültige Dao hat Zimmer mit
Dusche und einen bewachten Parkplatz.
15.00
Uhr: Raum und Zeit sind ausser Kraft, nicht aber die Funktion
der Schweissdrüsen und des Zwischenhirns, das den abfallenden
Glukosestand meldet. Trockene Salamibrötchen helfen. Was aber
hilft gegen die Frage "Ist es noch ...?"
18.30
Uhr: Die Vorfreude darauf, mit entblösstem Oberkörper schamfrei
den öffentlichen Raum zu besudeln, löst sich im Benzindunst
auf. Man beschimpft überholende Konkurrenten, um zu überprüfen,
ob man noch lebt. Doch was ist Leben? Kaffee.
20.30
Uhr: Die Frage "Ist es noch weit?" wird mit Ohrfeigen
beantwortet. Dao ist tot. Gott hat kein Einsehen. Krümel überall.
Bleischweres Gefühl gnädigen Vergessens, bis die Tomtom-Stimme
des elektronischen Weggefährten eine Abzweigung ankündigt. Wozu?
Wohin? Und, wenn ja? Mitternacht. Dao ist weit weg - zuhause
in der Doppelgarage. Die Sterne des Südens ziehen gut erholt
ihre Bahn und blinzeln des Urlaubern fröhlich zu. Und ... ja,
es ist noch weit. Sehr weit.
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