Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. Oktober 2010)
 
Geschichte einer Rettung
   

   Ich stehe vor dem Aufzug. Normalerweise nehme ich die Treppe, aber heute dachte ich mir: Entspann dich mal. Ich warte. Dieses Bürogebäude hat viele Aufzüge, aber alle sind irgendwie beschäftigt. Man hört, wie sich in den Schächten was bewegt. Aber es tut sich nichts.

   Ich befinde mich tief unter der Erde. Zweites Untergeschoss. Hier ist die Kantine untergebracht. Es ist Mittagszeit und viel Betrieb. Das Essen war, na ja nicht unterirdisch, ich will nicht übertreiben. Aber es liegt mir im Magen. Dazu der hässliche Boden, das fahle Neonlicht - meine Stimmung ist im Keller. Wann kommt endlich dieser verdammte Aufzug? Ach, jetzt weiss ich: Ich habe vergessen, den Knopf zu drücken.

   Pling! Der Aufzug ist da. Mittlerweise stehen mehrere Menschen um mich herum. Alle wollen mit. Das wird eng, aber es sind ja nur fünf Stockwerke. Die Tür schliesst. Wieder dieser hässliche Boden, aber das Jackett meines Vordermanns ist auch nicht schöner. Man weiss in einem Aufzug nicht, wohin man blicken soll. Ein kurzer Ruck und schon stehen wir. Im ersten UG steigen Menschen aus der Cafeteria zu. Jetzt ist es sehr eng. Begegnungen, Wiedersehensfreude, grosse Gefühle: "Mahlzeit!" - "Und?" - "Gut, und dir?" - "Kann nicht klagen!"

   Ein weiterer Ruck und wir sind im Erdgeschoss. Ein Mensch steigt aus, der gerade erst zugestiegen war. Dieses eine Stockwerk hätte er auch laufen können. Bevor ich mich darüber aufregen kann, nähert sich eine grosse, fröhliche Gruppe. "Passen wir noch rein?" - "Klar doch, wir machen uns halt dünne!" Haha.



   
In Trippelschritten weichen wir zrurück. Jetzt ist es sehr, sehr eng. Jetzt weiss ich in etwa, wie sich die Kumpel in Chile fühlten. Ich will nicht übertreiben. Ich weiss, ich bin ein verzogener Wohlstandsbengel. Alles ist bestens. Noch kann ich ja atmen. Was ich aber einatme, ist der üble Geruch meines Vordermannes. Bevor man ins Schwimmbecken geht, muss man duschen. Warum gilt das nicht für Aufzüge?

   Einer drückt den falschen Knopf. Jetzt halten wir auch noch im ersten Stock. Gelächter. Ist auch wirklich zu komisch, wie so ein Typ mit ungelenken Fingern einem die Lebenszeit raubt. Die Tür schliesst sich halb - und geht dann wieder auf. Es will doch noch jemand zusteigen. Das Ganze wiederholt sich, weil jemand mit dem Bein in der Lichtschranke steht. In Chile brauchten sie für 622 Meter rund 20 Minuten. Hier brauche ich für fünf Stockwerke einen halben Tag.

   Zweiter Stock. "Entschuldigung!" Eine Dame will aussteigen. Natürlich steht sie ganz hinten. Wir müssen alle raus. Man lächelt gequält, man stellt sich wieder in Postion. Aufzug fahren erfordert ein Höchstmass an Selbstbeherrschung. Nur in hoch entwickelten Gesellschaften geht das ohne Blutvergiessen ab. Noch ein Stockwerk. Die Rettung naht. Oben wartet zwar nicht meine Frau, sondern nur mein Chef. Aber das ist egal. Ich werde wieder raumgreifende Schritte tun können, frei atmen.

   Dritter Stock. Mein Stock! Der Aufzug hält nicht. Oh mein Gott, ich habe wieder vergessen, den Knopf zu drücken. Der nächste Halt ist erst zwei Stockwerke weiter. Ich steige sofort aus. Meine ersten Worte in Freiheit: "Wo ist hier das Treppenhaus?"
 

 

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