Ich stehe vor dem
Aufzug. Normalerweise nehme ich die Treppe, aber heute dachte
ich mir: Entspann dich mal. Ich warte. Dieses Bürogebäude hat
viele Aufzüge, aber alle sind irgendwie beschäftigt. Man hört,
wie sich in den Schächten was bewegt. Aber es tut sich nichts.
Ich
befinde mich tief unter der Erde. Zweites Untergeschoss. Hier
ist die Kantine untergebracht. Es ist Mittagszeit und viel Betrieb.
Das Essen war, na ja nicht unterirdisch, ich will nicht übertreiben.
Aber es liegt mir im Magen. Dazu der hässliche Boden, das fahle
Neonlicht - meine Stimmung ist im Keller. Wann kommt endlich
dieser verdammte Aufzug? Ach, jetzt weiss ich: Ich habe vergessen,
den Knopf zu drücken.
Pling! Der Aufzug
ist da. Mittlerweise stehen mehrere Menschen um mich herum.
Alle wollen mit. Das wird eng, aber es sind ja nur fünf Stockwerke.
Die Tür schliesst. Wieder dieser hässliche Boden, aber das Jackett
meines Vordermanns ist auch nicht schöner. Man weiss in einem
Aufzug nicht, wohin man blicken soll. Ein kurzer Ruck und schon
stehen wir. Im ersten UG steigen Menschen aus der Cafeteria
zu. Jetzt ist es sehr eng. Begegnungen, Wiedersehensfreude,
grosse Gefühle: "Mahlzeit!" - "Und?" - "Gut,
und dir?" - "Kann nicht klagen!"
Ein
weiterer Ruck und wir sind im Erdgeschoss. Ein Mensch steigt
aus, der gerade erst zugestiegen war. Dieses eine Stockwerk
hätte er auch laufen können. Bevor ich mich darüber aufregen
kann, nähert sich eine grosse, fröhliche Gruppe. "Passen
wir noch rein?" - "Klar doch, wir machen uns halt
dünne!" Haha.

In
Trippelschritten weichen wir zrurück. Jetzt ist es sehr, sehr
eng. Jetzt weiss ich in etwa, wie sich die Kumpel in Chile fühlten.
Ich will nicht übertreiben. Ich weiss, ich bin ein verzogener
Wohlstandsbengel. Alles ist bestens. Noch kann ich ja atmen.
Was ich aber einatme, ist der üble Geruch meines Vordermannes.
Bevor man ins Schwimmbecken geht, muss man duschen. Warum gilt
das nicht für Aufzüge?
Einer drückt
den falschen Knopf. Jetzt halten wir auch noch im ersten Stock.
Gelächter. Ist auch wirklich zu komisch, wie so ein Typ mit
ungelenken Fingern einem die Lebenszeit raubt. Die Tür schliesst
sich halb - und geht dann wieder auf. Es will doch noch jemand
zusteigen. Das Ganze wiederholt sich, weil jemand mit dem Bein
in der Lichtschranke steht. In Chile brauchten sie für 622 Meter
rund 20 Minuten. Hier brauche ich für fünf Stockwerke einen
halben Tag.
Zweiter Stock. "Entschuldigung!"
Eine Dame will aussteigen. Natürlich steht sie ganz hinten.
Wir müssen alle raus. Man lächelt gequält, man stellt sich wieder
in Postion. Aufzug fahren erfordert ein Höchstmass an Selbstbeherrschung.
Nur in hoch entwickelten Gesellschaften geht das ohne Blutvergiessen
ab. Noch ein Stockwerk. Die Rettung naht. Oben wartet zwar nicht
meine Frau, sondern nur mein Chef. Aber das ist egal. Ich werde
wieder raumgreifende Schritte tun können, frei atmen.
Dritter
Stock. Mein Stock! Der Aufzug hält nicht. Oh mein Gott, ich
habe wieder vergessen, den Knopf zu drücken. Der nächste Halt
ist erst zwei Stockwerke weiter. Ich steige sofort aus. Meine
ersten Worte in Freiheit: "Wo ist hier das Treppenhaus?"
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