Kein Senf mehr in der Tube
Als
ich zu Wochenbeginn erwachte, hatte ich plötzlich keine Meinung
mehr. Im Radio lief die Meldung, die Rentengarantie werde vielleicht
wieder abgeschafft, und ich dachte bloss: Na und. Wieter hiess
es, dass interne Dokumente belegten, der ohnehin schon schmutzige
Krieg in Afghanistan sei noch schmutziger als bislang angenommen.
Und dass der BP-Chef wegen der öligen Riesensauerei im Golf
von Mexiko zurücktreten müsse und die vielen Toten der Duisburger
Loveparade vermutlich das Opfer unglaublicher Fehlplanungen
geworden seien. Alles echter Aufreger, da steht man doch normalerweise
im Bett. Ich aber drückte mich in mein Kissen: Egal, egal, so
was von egal.
Schrecklich. Ein Journalist,
der keine Meinung hat, ist ein Fussballer ohne Bums, ein Tiger
ohne Krallen, eine Suppe ohne Salz. Ich dachte: Erst verlierst
du deine Meinung, dann beginnen deine Vergleiche zu hinken,
und am Ende schreibst du so, wie Angela Merkel redet. Das wäre
dann das Ende, mein Freund. Wie konnte es so weit kommen?
Körperlich
fühlte ich mich gut. Ich hatte zum ersten Mal auf meiner neuen,
wunderbar harten Matratze geschlafen und zum ersten Mal seit
Jahren beim Aufstehen keine Rückenschmerzen mehr gehabt. Vielleicht
kann man sich nur dann aufregen, wenn einem etwas wehtut. Vielleicht
haben nur jene eine klare Meinung, die in der Nacht zu vor schlecht
geschlafen haben. Ich weiss es nicht, ich will es auch nicht
wissen.

Wehmütig
erinnere ich mich an die Zeit, als ich noch eine Haltung hatte,
tiefe, innere Überzeugungen. Ich war ein argumentatives Fallbeil,
meine Urteile erfolgten im Minutentakt. Ich hatte nicht nur
zu allem eine Meinung, ich hatte auch immer und überall recht.
Es
würde hier zu weit führen, all die Dinge aufzuzählen, die ich
korrekt vorhergesagt habe oder von denen ich im Nachhinein wusste,
dass sie passieren würden. Nur so viel: Rechthaben ist anstrengend.
Widerspruch tut fast schon körperlich weh. Man weiss es besser,
man wüsste, was zu tun wäre. Aber all die anderen begreifen
es einfach nicht. Rechthaben macht einsam, vielleicht sogar
krank. Wie schrieb einst der französische Dichter Adelbert von
Chamisso: "Du bist im Recht, nun sieh zu, wie du da wieder
herauskommst."
Mit meiner Meinungslosigkeit
wurde es im Lauf der Woche nicht besser. Bringen die Sanktionen
gegen den Iran was? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sollte
die Türkei EU-Mitglied werden? Das kann man so oder so sehen.
Es
ist wohl so, dass ich einfach urlaubsreif bin. Ich habe so oft
zu allem meinen Senf dazugegeben, dass ich jetzt schreibe wie
Tube leer. Deshalb bin ich jetzt jetzt drei Wochen erst mal
weg. Ich Ich werde ausspannen. Ich werde in billigen Hotels
mit durchgelegenen Matratzen schlafen. Dadurch wird hoffentlich
meine Grundaggressivität wieder zurückkehren. Ja, ich werde
zurückkommen und wieder eine klare Meinung haben. Welche Meinung
dass dann sein wird, das ist mir egal, egal, so was von egal.
Ich halte es da mit dem amerikanischen Autor Ashleigh Brilliant,
der mal sagte: "Meine Ansichten haben sich zwar geändert,
aber nicht die Tatsache, dass ich recht habe."
|