Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. Mai 2009)
 
Der Sonntagsfahrer
 

   Mit den ersten wärmenden Strahlen der Maisonne zeigt sich jetzt auf den Strassen wieder ein Bewohner unserer Städte und Dörfer, der sich über den Winter in seine gut beheizte Wohnhöhle zurrückgezogen und dort Fettreserven für die kommenden aktiven Monate angelegt hatte. Es ist der Sonntagsfahrer, dem der Volksmund viele Legenden andichtet. So sagt man, der Sonntagsfahrer haben weder Augen noch ein Gesicht. Das ist natürlich nicht der Fall, doch ein Körnchen Wahrheit steckt in jedem Volksglauben.

   Einen Sonntagsfahrer erkennen allenfalls bestens geschulte Beobachter im Entgegenfahren. Erst wenn man sich hinter einem Fahrzeug wiederfindet, das sich in behäbigen Tempo und vorsichtig über die Strassen tastet, weiss man sicher: Aha, ein Sonntagsfahrer. Die Legende, er habe kein Gesicht, rührt daher, das man ihn stets nur von hinten oder allenfalls im Profil sieht, wenn er mit lebhaften Fingerzeigen seinen Weggefährten die Sehenswürdigkeiten des umgebenden Reviers erklärt.

   Früher war der Sonntagsfahrer mit grosser Sicherheit an einem Hut mit Krempe zu erkennen, den er auf dem Kopf trug. Doch der Konkurrenzdruck modernerer Lebensformen hat den huttragenden Sonntagsfahrer an den Rand der Gesellschaft und in dünn besiedelten Gebiete zurückgedrängt. Artenschützer fürchten nicht ohne Grund, dass er in diesen isolierten Populationen genetisch verarmt und vom Aussterben bedroht ist.

   Auch der Mythos der fehlenden Augen fusst auf den Beobachtungen nachfolgender Autofahhrer: Man erhascht nie einen Blick des SOnntagsfahrers in den Rückspiegel, weil er stets auf die Strasse vor ihm oder auf seine Mitfahhrer fixiert ist. Warum der Sonntagsfahrer das Orientierungsinstrument Rückspiegel nicht benutzt, ist unter Verhaltensforschern umstritten. Ebenso wenig ist über Ziel und Zweck seiner meist kurzen Streifzüge über Nebenstrassen bekannt. Dass diese Ausflüge Balz und Paarung dienen, schliesst die Forschung aus biologischen Gründen aus. Der Sonntagsfahrer hat die Aufzucht eigenen Nachwuchses längst abgeschlossen, tritt in seinem Familienverband allenfalls noch als Aufsichtsperson und Spielkamerad für die Enkelgeneration in Erscheinung.

   Einigkeit herrscht in der Wissenschaft aber darüber, dass das vermehrt mittägliche Auftreten von Sonntagsfahrern eindeutig der Futtersuche dient, wobei Ausflugslokale in ländlicher Umgebung als bevorzugte Futterstellen gelten dürfen. Den weg dorthin legt der Sonntagsfahrer, der sich nur selten weit von seiner Wohnhöhle entfernt, konzentriert zurück. Allerdings überrascht er oftmals mit abrupten Brems- und Abbiegemanöver, weshalb sich für nachfolgende Fahrzeuge ein Sicherheitsabstand empfiehlt.

   Der Sonntagsfahrer ist ein in Grenzen geselliges Wesen. In einem Sonntagsfahrerauto ist in der Regel ein Sonntagsfahrerpärchen unterwegs, in Ausnahmefällen lässt sich ein zweites Pärchen auf der Rückbank beobachten, das interessiert die vorsichtige Erkundung der Umgebung verfolgt. Mehrere Sontagsfahrerautos im Konvoi sind selten anzutreffen.

   Dennoch sind die Mahnungen des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu), der Sonntagsfahrer gehöre zu den im Bestand bedrohten Arten, stark übertrieben. Noch nie waren so viele Menschen wie heute jenseits ihres aktiven Berufslebens im Besitz von Führerschein und Fahrzeug. Ihre Zahl wird weiter steigen, weshalb der Sonntagsfahrer-Bestand auf Jahrzehnte hinaus als gesichert gelten darf.
 

 

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