Frühmorgens in einem Berliner
Villenvorort. Ein kleiner, kräftiger Mann, er ist von Beruf
Konzernchef, beginnt seinen Tag mit einem Blick in den Monitor,
der die ganze Nacht auf seine Füsse gerichtet war und jede nächliche
Bewegung der Zehen aufzeichnete. "Verdammte Biester! Habt
euch wieder bewegt, ohne mich zu informieren", murmelte
er missmutig. Ein zweiter Bildschirm zeigt seine Frau beim Kaffeemachen.
Alles wie immer. Trotzdem zoomt er die Kamera näher an die vertraute
Silhouette heran. Man kann ja nie wissen.
Später,
beim Frühstück (Eier aus videokontrollierter Bodenhaltung) wirft
er einen flüchtigen Blick über die Aufzeichnungen der vergangenen
Nacht: "Tochter trifft gegen 23:30 Uhr ein, ermittelter
Blutalkoholwert 0,4 Promille, Nachbarin duscht gegen 22 Uhr
- alleine." Nachdem er drei mobile Kameras vorgeschickt
hat, betritt er die in gleissendes Licht getauchte Tiefgarage.
Dort wartet sein Chauffeur, der durch jahrelange Überprüfungen
bereits vollkommen durchsichtig ist. In rascher Fahrt geht
es zur Konzernzentrale. Ein gläserner Aufzug bringt den Konzernchef
in den 123. Stock. Er begrüsst einen Sekretariatsroboter, dessen
digitale DNA täglich mehrfach gecheckt wwird, und lässt sich
per Direktschaltung mit allen laufenden ICE-Zügen verbinden.
Wird hier ein Wort zuviel geredet? Verschiebt ein Schaffner
das Kinderabteil gegen Bares? Hat das Rührei im Bistro die nötige
Konsistenz aus Schmelz und Glibber? Irgendjemand während der
Arbeitszeit in der Bordtoilette? Alles scheint normal. "Gut,
gut", murmelt der Konzernchef. "Und wenn doch, ich
kriege euch alle."
Sein Arbeitstag
endet selten vor 23 Uhr. Millionen Richtmikrofone liefern entlarvende
Töne aus Zügen in den entlegensten Provinzbahnhöfen. Aber bei
Gott! Es sind 220 000 Mitarbeiter. Jeder davon ein potenzieller
Dieb, Unruhestifter, Arbeitszeitfälscher, Schienenverbieger.
"Wie soll ich das schaffen?", murmelt der Konzernchef
melancholisch. "Und wer dankt die Mühe? Als ob es mir Spass
machen würde, täglich hunderttausend Kontonummern durchzusehen."
Und aufschreiben darf man nichts, weil die Gefahr besteht, dass
irgendein Gewerkschafter oder ein Journalistenschnüffler den
Schreibtisch durchwühlt und dann alles an die grosse Glocke
hängt. "Verdammter Datenschutz." Aber er hat vorgesorgt.
Ein mächtiger USB-Stick wurde diskret unter die Kopfhaut implantiert.
Ein teures Zweithaar-Arrangement verdeckt die verräterische
Ausbuchtung. Er streichelt gedankenverloren darüber. "Da
ist alles drin. Und wenn mich diese politische Wichte in Berlin
fallen lassen sollten - dann ... Meine Kameras reichen bis in
das Verkehrsministerium." An alles ist gedacht.

Dennoch
fühlt er sich unwwohl, kommt sich beobachtet vor. Die Jalousien
aus Blei sind längst heruntergelassen - kein fremdes Videoauge
kann in sein Büro spähen. "Aber wer weiss, was die da drüben
bei der Telekom für Methoden haben," denkt er sorgenvoll.
Immer mehr Überwachungsdaten aus anderen Unternehmen verdrecken
seine Ermittlungen. Ein einziger Brei aus Korruption, Lüge
und Scheinheiligkeit. "Nun ja, so kennt man wenigstens
die Leichen im Keller der anderen", schmunzelt der Konzernchef.
"Wer weiss, wozu's gut ist." Aber dieser Aschenbecher
auf dem Beistelltisch ... Stand der nicht gestern an einer anderen
Stelle? Wenn da jetzt ein Mikrofon darunter ... Er wirft ihn
rasch aus dem Fenster, dann fällt sein Blick auf die Vase mit
frischen Lilien, die seine Sekretärin jeden Tag ins Büro stellt.
Warum schauen die mich so an? Als hörten sie mir zu, könnten
gar meine Gedanken lesen. Ihr Luder! Er schneidet die Stängel
mit einer Papierschere durch und sinkt seufzend in den Sessel.
Feierabend,
Der Blackberry meldet den Geburtstag seiner Frau. Ein Geschenk!
Dank jahrelanger Überprüfung weiss er um ihre Vorlieben. "Tja,
für die anderen tust du alles", denkt er. "Aber wie
steht's um dich selbst? Solltest du nicht mal etwas ganz anderes
machen? Aber was? Man bräuchte irgendeine Idee? Wozu habe
ich eigentlich sieben Privatdetektive, ein Dutzend Datenschnüffler
und einen Emo-Scanner auf mich selbst angesetzt? Warum kommt
da nichts? Sollte etwa ...? Gar nichts drin sein? Keine Gefühle,
Sehnsüchte?" Der Mann beginnt leise zu weinen und trocknet
sich mit dem Kontoauszug des Mitarbeiters 134 972 (siehe
Bild) die Augen. Dann lässt er sich nach Hause fahren. |