Fällt Ihnen irgendetwas
auf? Da draussen beispielsweise: Dieser alte Baum, der mit seinen
Ästen das Wort Nullwachstum in den Himmel schreibt? Nichts Besonderes,
meinen Sie? Gestern habe er noch aus einem Rilke-Gedicht zitiert?
Von wegen. Dieser Baum sendet uns ein Zeichen. Wir können es
nur nicht deuten. Das war mal anders. Im alten Rom lasen die
Auguren, die Wahrsager, aus dem grossen Buch der Natur. Sie
wussten: Wenn das Geäst der Linde bei ungeraden Wochentagen
nach Neumond ein Ypsilon beschreibt, unweit davon ein Schaf
dreimal blökt und das reife Getreide die Form einer Konjunkturdelle
annimmt, dann steht uns ein unruhiger Herbst bevor.
Scharlatanerie,
meinen Sie, Unfug, esoterischer Quark? Gemach, gemach. Auch
heutzutage blüht das Handwerk der Augurerei (siehe Bild), wie
man diese Woche gesehen hat, als alle möglichen Experten Weissagungen
zur Konjunktur abgaben. Diese modernen Interpreten der Auspizien
haben die antiken Kenntnisse behutsam aufgegriffen und verfeinert.
Sie stützen sich auf Statistiken, die mit äusserster Präzision
angefertigt wurden. Kaffeesätze aus den Vorstandetagen der Hochfinanz
werden gesammelt und gelesen, der Vogelflug über dem Mittelstand
genauso beobachtet wie die Wolkenbildung an der Frankfurter
Börse. Aus all diesen Parametern erhalten die Weisen ein präzises
Bild der Lage und können mit unfehlbarer Ungenauigkeit die ökonomische
Entwicklung der kommenden 14 Tagen vorhersehen.

Unsere
Redaktion hat sich ja schon lange mit der Augurerei beschäftigt.
Wir haben Vorlesungen an jenem Belehrstuhl in Hamburg besucht,
wo Altkanzler Helmut Schmidt zeigt, wwie man aus dem Rauch der
Zigaretten die Vergangenheiz vorhersagt. Nun erkennen wir die
Zeichen des Alltags. Ein Käfer, der rückwärts läuft? Eine Schwalbe,
die singt wie eine Amsel, eine Amsel, die krächzt wie ein Rabe,
und ein Rabe, der Abba nachträllert? Ein Auto mit Migrationshintergrund,
aus dem keine Musik dröhnt? Eine Waschmaschine, die alle Socken
wieder preisgibt? Alle jene mysteriösen Abweichungen von der
Norm des Alltags alarmieren uns. Doch Beobachten ist das eine,
Auswerten das andere. Hier muss vor leichtfertiger Nachahmerei
gewarnt werden. Wenn Sie also zu Hause rätselhafte Phänomene
wahrnehmen, hüten Sie sich bitte vor voreiligen Schlussfolgerungen.
Schicken Sie uns alles, damit wir eine seriöse Expertise anfertigen
können.
Sollte übrigens die Ausgabe
ihrer heutigen Zeitung ein wenig streng riechen, kann das daran
liegen, dass wir kurz vor der Auslieferung eine Eingeweideschau
durchgeführt haben. |