Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (17. August 2008)
 

   Fällt Ihnen irgendetwas auf? Da draussen beispielsweise: Dieser alte Baum, der mit seinen Ästen das Wort Nullwachstum in den Himmel schreibt? Nichts Besonderes, meinen Sie? Gestern habe er noch aus einem Rilke-Gedicht zitiert? Von wegen. Dieser Baum sendet uns ein Zeichen. Wir können es nur nicht deuten. Das war mal anders. Im alten Rom lasen die Auguren, die Wahrsager, aus dem grossen Buch der Natur. Sie wussten: Wenn das Geäst der Linde bei ungeraden Wochentagen nach Neumond ein Ypsilon beschreibt, unweit davon ein Schaf dreimal blökt und das reife Getreide die Form einer Konjunkturdelle annimmt, dann steht uns ein unruhiger Herbst bevor.

   Scharlatanerie, meinen Sie, Unfug, esoterischer Quark? Gemach, gemach. Auch heutzutage blüht das Handwerk der Augurerei (siehe Bild), wie man diese Woche gesehen hat, als alle möglichen Experten Weissagungen zur Konjunktur abgaben. Diese modernen Interpreten der Auspizien haben die antiken Kenntnisse behutsam aufgegriffen und verfeinert. Sie stützen sich auf Statistiken, die mit äusserster Präzision angefertigt wurden. Kaffeesätze aus den Vorstandetagen der Hochfinanz werden gesammelt und gelesen, der Vogelflug über dem Mittelstand genauso beobachtet wie die Wolkenbildung an der Frankfurter Börse. Aus all diesen Parametern erhalten die Weisen ein präzises Bild der Lage und können mit unfehlbarer Ungenauigkeit die ökonomische Entwicklung der kommenden 14 Tagen vorhersehen.



   Unsere Redaktion hat sich ja schon lange mit der Augurerei beschäftigt. Wir haben Vorlesungen an jenem Belehrstuhl in Hamburg besucht, wo Altkanzler Helmut Schmidt zeigt, wwie man aus dem Rauch der Zigaretten die Vergangenheiz vorhersagt. Nun erkennen wir die Zeichen des Alltags. Ein Käfer, der rückwärts läuft? Eine Schwalbe, die singt wie eine Amsel, eine Amsel, die krächzt wie ein Rabe, und ein Rabe, der Abba nachträllert? Ein Auto mit Migrationshintergrund, aus dem keine Musik dröhnt? Eine Waschmaschine, die alle Socken wieder preisgibt? Alle jene mysteriösen Abweichungen von der Norm des Alltags alarmieren uns. Doch Beobachten ist das eine, Auswerten das andere. Hier muss vor leichtfertiger Nachahmerei gewarnt werden. Wenn Sie also zu Hause rätselhafte Phänomene wahrnehmen, hüten Sie sich bitte vor voreiligen Schlussfolgerungen. Schicken Sie uns alles, damit wir eine seriöse Expertise anfertigen können.

   Sollte übrigens die Ausgabe ihrer heutigen Zeitung ein wenig streng riechen, kann das daran liegen, dass wir kurz vor der Auslieferung eine Eingeweideschau durchgeführt haben.
 

 

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