Wertewandel, kulturelle
Vielfalt, transsexuelle Männer, die Babys zur Welt bringen -
alles schön und gut. Doch ein paar klassische Primärtugenden sollten wir nicht vergessen. Tugenden, die
unser Land gross gemacht haben.
Nehmen
wir die Ehrlichkeit. Vorbildlich das Verhalten jenes
Rentners, der 2006 in einer Zugtoilette 391 000 Euros sowie
9000 Dollar herrenlos vorgefunden hat. Selbstverständlich hat
er das Geld schnellstmöglich bei der Deutschen Bahn, in derem
Fahrzeug er seinen Fund gemacht hat, abgegeben. Weil sich der
rechtmässige (?) Besitzer bis heute nicht gemeldet hat, wird
der Rentner nach Ablauf der amtlichen Frist für seine Ehrlichkeit
belohnt: Die Bahn will ihm 6000 Euro Finderlohn geben. Den Rest
behält sie selbst, und das ist moralisch korrekt: Selbst kleinste
Finanzspritzen machen die Bahn attraktiver für die Börse und
entlasten den Steuerzahler.
Nehmen
wir die Freundschaft, die edelste und selbstloseste aller
Tugenden. Sie beweist sich so richtig erst im Leid. Wie bei
jener Frau in Speyer, die nach 30 Stunden pausenlosen Zuhörens
Polizei und Rettungsdienst um Hilfe rief, weil ihre beste Freundin
trotz verzweifelter Aufforderung nicht aufhörte, über ihre verfahrene
Situation zu sprechen. Auch machte sie keine Anstalten, die
Wohnung zu verlassen, obwohl sie von ihrer Zuhörerin inständig
darum gebeten worden war. Der dauerquasselnden Freundin moralische
Vorhaltungen wegen Ausnutzens der Freundschaft oder krankhafter
Ichbezogenheit zu machen wäre indes verkehrt: Es bedarf höchster
Disziplin, ein verpfuschtes Leben auf 30 Stunden zu komprimieren.
Psychotherapeutische Praxen veranschlagen in solchen Fällen
mindestens 100 bis 120 Stunden.

Der
sorgsame Umgang mit Eigentum mag als Sekundärtugend erscheinen,
hat aber einst das deutsche Wirtschaftswunder erst möglich gemacht.
Deshalb sind jene Diebe zu tadeln, die jüngst mit einem Tieflader
auf ein Werksgelände nahe Straubing fuhren, blitzschnell 18
Tonnen Stahl aufluden und mir nichts, dir nichts davonbrausten.
Weil sie die Ladung nicht ordnungsgemäss gesichert hatten (wie
oft muss man eigentlich noch darauf hinweisen?) ruschte die
wertvolle Fracht in der ersten Kurve vom Laster. Besser haben
sich jene Räuber betragen, die nahe dem badischen Kehl frühmorgens
mit einem Bagger den gläsernen Vorbau einer Bank abrissen, den
Geldautomaten auf einen gestohlenen Lkw aufluden und türmten.
Frühmorgens am nächsten Tag brachten sie den Geldautomaten und
den Laster nach Gebrauch wieder zurück (siehe Bild). Vorbildlich.
Warum
in dieser Kolumne Diebstahl und Raub ungerügt bleiben? Weil
man den Tätern nicht zum moralischen Vorwurf machen kann, dass
ihr Einkommen nicht hoch genug ist, um auf anständige Weise
Steuern zu hinterziehen. Ebenso wenig, dass sie nicht
die finanziellen Mittel zum Kauf einer Firma haben, um diese
dann bis aufs Blut auszuquetschen. |