Mailand, die alte Schönheit
in der Poebene, hat schon manchen Sturm überstanden. Sie hat
berühmte Söhne wie Adriano
Celentano und den Karatemeister Carlo Fugazza hervorgebracht
und gelassen zugeschaut, wie Mussolini zu seinem Marsch aus
Rom aufbrach. Seit dieser Woche aber liegt sie im Schatten eines
schroff aufragenden Gebirges.
Nun enstehen
auch in Italien gewaltige Gebirge nicht über Nacht, sondern
sind eigentlich schon immer da gewesen. Auch der erratische
Fels, der die Metropole beschattete, war keine
Laune der Natur, sondern setzt sich aus Koffern zusammen, die
vom britischen Flughafen Heathrow nach Mailand transportiert
wurden (siehe Bild). In London wusste man nicht mehr, wohin
mit ihnen, nachdem die Gepäckbänder des neu eingeweihten Terminals
5 sie gemäss eines ausgekügelten Systems geschluckt, verdaut
und an entlegenen Orten des Airports ausgeschieden hatte. Die
Flughafenmanager staunten über den gewaltigen Appetit der Anlage,
der die kühnsten Erwartungen übertraf, schichteten
Koffer zu Pyramiden und lustigen Türmen und hielten erst inne, als sich die Gepäcklawine
auf die geschäftige Londoner Innenstadt zuwälzte. Flugs erinnerte
man sich an die sprichwörtliche Präzision der italienische Post
beim Briefsortieren und schickte alles auffindbare Gepäck nach
Mailand.

Dort
wird jetzt das Koffergebirge abgetragen. Den damit befassten
italienischen Spezialisten bieten sich faszinierende Einblicke:
Jener Rucksack, übersät mit toten Fliegen - gehört er einem
jungen Weltreisenden, der seine letzte saubere Leibwäsche in
Thailand gegen ein Reisgericht eintauschte? Und die Luxustasche,
aus der ein weisses Pulver rieselt - wurde sie von jenem Supermodel vergessen,
das seiner Beschwerde über den schlechten Service mit einer
Nagelschere Nachdruck verlieh? Der Koffer mit den hochmütigen
Krawatten und der Klinikpackung Beruhigungspillen - wird er
bereits von einem Investmentbanker vermisst?
Der
Mailänder Kofferberg gleicht dem Aufstand des Prekariats. Über
Jahrhunderte mussten selbst die edelsten Gepäckstücke ihren
Besitzern folgen, wurden mit Füssen herumgekickt und von Niedriglöhnern
respektlos auf Transportwagen geworfen. Sie schluckten hässliche
Souverniers und anrüchige Unterhosen, fügten sich klaglos der
plan- und atemlosen Raserei ihrer Gebieter. Das ist nun vorbei.
Seit in Heathrow das modernste Terminal der Welt eingeweiht
wurde, gibt es einen Pardigmenwechsel der modernen Reisekultur:
Die Reisenden folgen jetzt
ihren Koffern.
Ohne Ballast machen
sie sich auf den Weg über die Alpen, übernachten in einfachen
Herbergen und schlucken
den Staub von Strassen, über die sie noch vor kurzem arrogant mit
dem Flieger hinwegdonnerten. Sie blicken in den Lokalen wehmütig
auf ihre längst wertlosen Bordkarten und tauschen elektronische
Terminkalender gegen Einlegesohlen ein. Irgendwann werden sie
ihre Koffer begrüssen wie alte Freunde. Doch es wird nie mehr
so sein wie früher.
In Heathrow herrscht
derzeit Ruhe. Von den Mechanikern, die sich in den Verdaungstrakt
der Förderanlage begeben haben, fehlt jede Spur. Bestimmt sehen
wir sie in Mailand wieder. |