Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (20. August 2006)
  

  In unserer Gesellschaft ist die wichtigste Kunst die des Verdrängens. Wer gut verdrängt, macht Karriere. Er verdrängt den herabhängenden Nasenpopel beim Meeting tags zuvor. Er verdrängt eine fahrlässig hinausgeschickte eMail schlüpfrigen Inhalts oder die plötzliche Deflation (vulgo: Furz) beim zärtlichen Téte-à-téte. Für denjenigen, der nicht verdrängen kann, wird das Leben zur Hölle. Doch Vorsicht: Alle verdrängten Erinnerungen, Peinlichkeiten, Schmerzen erreichen bis zum Erwachsenenalter ein Volumen, das dem der Schlachtabfälle einer mittelgrossen Abdeckerei entspricht.

  Und was noch viel schlimmer ist: Nicht jeder Gedächnismüll lässt sich dauerhaft entsorgen. Mitunter brechen die verdrängten Altlasten aus der Vergangenheit heraus wie Russenpanzer aus dem Oderbruch. Der Fall Günter Grass belegt dies eindrucksvoll. Fast noch bewegender ist die Geschichte des Hitlerkäfers (siehe Bild). Der Fluch dieses Tieres ist sein Name: Anophthalmus hitleri. Der Hitlerkäfer wurde 1933 im damaligen Jugoslawien entdeckt und von einem glühenden Nazi nach dem Führer benannt. Darüber berichtet "National Geographic" in der September-Ausgabe. Bei uns war der Hitlerkäfer jahrzehntelang geächtet. Die Kulturszene mied seine Gesellschaft. Museen weigerten sich, ihn in ihre Bestände aufzunehmen.



  Dabei ist heute umstritten, ob diese Käfer wirklich in der Waffen-SS gedient haben. Nach Recherchen unserer Wissenschaftsredaktion wurden viele Tiere erst in den letzten Kriegsmonaten eingezogen. Sie konnten kriegsentscheidend nicht mehr eingreifen. Dennoch werden auf Insektenbörsen inzwischen Höchstpreise für sie bezahlt.

  Jetzt haben einige der Hitlerkäfer ihr jahrzehntelanges Schweigen gebrochen. "Natürlich haben wir geschossen, wenn uns was vor die Flinte kam", bekannte einer der Käfer in einem Interview. Ein anderer widersprach: "Wir irrten in den letzten Kriegsmonaten nur noch zwischen den Fronten umher. Einen Schuss habe ich nie abgegeben. Wenn der Iwan kam, pisste ich mir vor Angst in die Hose."

  Die deutsche Geschichte muss also nicht umgeschrieben werden. Es ist aber in den kommenden Monaten eine Flut von Erinnerungsliteratur aus Käferperspektive zu rechnen. Alles wird aufgearbeitet, nichts verdrängt. Ob der Hitlerkäfer wieder in die Museen aufgenommen wird, ist noch ungewiss. Die Wunden sind noch zu frisch.

 

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