In
unserer Gesellschaft ist die wichtigste Kunst die des Verdrängens.
Wer gut verdrängt, macht Karriere. Er verdrängt den herabhängenden
Nasenpopel beim Meeting tags zuvor. Er verdrängt eine fahrlässig
hinausgeschickte eMail schlüpfrigen Inhalts oder die plötzliche
Deflation (vulgo: Furz) beim zärtlichen Téte-à-téte. Für denjenigen,
der nicht verdrängen kann, wird das Leben zur Hölle. Doch Vorsicht:
Alle verdrängten Erinnerungen, Peinlichkeiten, Schmerzen erreichen
bis zum Erwachsenenalter ein Volumen, das dem der Schlachtabfälle
einer mittelgrossen Abdeckerei entspricht.
Und
was noch viel schlimmer ist: Nicht jeder Gedächnismüll lässt
sich dauerhaft entsorgen. Mitunter brechen die verdrängten
Altlasten aus der Vergangenheit heraus wie Russenpanzer aus
dem Oderbruch. Der Fall Günter Grass belegt dies eindrucksvoll.
Fast noch bewegender ist die Geschichte des Hitlerkäfers (siehe
Bild). Der Fluch dieses Tieres ist sein Name: Anophthalmus hitleri.
Der Hitlerkäfer wurde 1933 im damaligen Jugoslawien entdeckt
und von einem glühenden Nazi nach dem Führer benannt. Darüber
berichtet "National Geographic" in der September-Ausgabe.
Bei uns war der Hitlerkäfer jahrzehntelang geächtet. Die Kulturszene
mied seine Gesellschaft. Museen weigerten sich, ihn in ihre
Bestände aufzunehmen.

Dabei
ist heute umstritten, ob diese Käfer wirklich in der Waffen-SS
gedient haben. Nach Recherchen unserer Wissenschaftsredaktion
wurden viele Tiere erst in den letzten Kriegsmonaten eingezogen.
Sie konnten kriegsentscheidend nicht mehr eingreifen. Dennoch
werden auf Insektenbörsen inzwischen Höchstpreise für sie bezahlt.
Jetzt
haben einige der Hitlerkäfer ihr jahrzehntelanges Schweigen
gebrochen. "Natürlich haben wir geschossen, wenn uns
was vor die Flinte kam", bekannte einer der Käfer in einem
Interview. Ein anderer widersprach: "Wir irrten in den
letzten Kriegsmonaten nur noch zwischen den Fronten umher. Einen
Schuss habe ich nie abgegeben. Wenn der Iwan kam, pisste ich
mir vor Angst in die Hose."
Die deutsche
Geschichte muss also nicht umgeschrieben werden. Es ist
aber in den kommenden Monaten eine Flut von Erinnerungsliteratur
aus Käferperspektive zu rechnen. Alles wird aufgearbeitet, nichts
verdrängt. Ob der Hitlerkäfer wieder in die Museen aufgenommen
wird, ist noch ungewiss. Die Wunden sind noch zu frisch. |