Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (16. April 2006)
  

  Es muss so in den späteren 80er Jahren gewesen sein: Melina Mercouri, legendäre griechische Schauspielerin und Sängerin, sass in ihrer grosszügigen Athener Stadtwohnung und blickte in das glitzernde Verkehrsgewühl hinaus. Versonnen steckte sie sich eine Zigarette an und hing ihren Erinnerungen nach: Filme wie "Sonntags nie" oder "Topkapi" hatten sie weltberühmt gemacht, Männer in schmalen Anzügen und schnittigen Autos, Flughäfen und Leidenschaften, Amouren zwischen Piräus und Paris - die Koordinaten eines schnellen Lebens.

  Die wunderschöne, wenngleich etwas in die Jahre gekommene Schauspielerin und griechische Kultusministerin Mercouri blickte also versonnen hinaus, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und erinnerte sich wehmütig an die alten Zeiten, als Europa noch strahlte und funkelte. Sechs Zigaretten und einige Telefonate mit ihren befreundeten Spitzenpolitikern später war alles unter Dach und Fach: Die Idee der europäischen Kulturhauptstadt war geboren.

  Von Paris mit seinen Theatern und Boulevards über die nordische Weltoffenheit Stockholms bis hin zur brüchigen Noblesse Lissabons reicht die Riege des nominierten Metropolen. Zwangsläufig musste das Augenmerk Europas irgendwann auf die Stadt Essen (siehe Bild) fallen, in der es zwar keine Boulevards, dafür mehrere Fischereivereine mit Tagesangelscheinausgabe gibt, ein Bowlingcenter mit Schützenbahn, Rassehundeausstellungen und die Walter-Hohmann-Sternwarte. Diese uralte und glänzende europäische Verwurzelung wurde jetzt mit der Nominierung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 belohnt.



  So meint man jetzt schon, ein seltsames Funkeln aus den Gewässer der Ruhr wahrzunehmen. Im Essener Volksgarten (Ottostrasse 63) werden bald Avantgarde-Filmer mit schwarzen Brillen ihre Projekte diskutieren. Ihre hinreissend schönen Jungschauspielerinnen drängeln sich derweil um die Auslagen bei Kaufhof in der Kettwiger Strasse. Der Campingplatz Deichklause wird von fröstelnden Kulturtouristen bevölkert sein, die zu den Archetektur-Baudenkmälern des Spätbeton-Brutalismus pilgern. Und am Wildgatter Heissiwald (Rot-, Schwarz- und Muffelwild) werden Staatsmänner nach anstrengenden Gipfeln ihre Mätressen treffen.

  Melinda kann das alles nicht mehr erleben - sie starb 1994. Aber Europa, unser altes Europa leuchtet.

 

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