Am
besten, Sie lesen diese Spalte, wenn überhaupt, mit geschlossenen
Augen. Denn am Wahlsonntag könnte jedes noch so harmlose
Wort Ihre Entscheidung beeinflussen. Werbeexperten bestätigen
das: Sie montieren das Bild eines Topfs mit Popcorn in einen
Kinofilm. Zwar sahen die Besucher den Topf nicht, aber sie bekamen
Hunger und kauften das Zeug. Wenn in dieser Spalte Begriffe
wie Merkel, Steuer oder Entfernungspauschale versteckt
würden, bekämen viele Leser Kopfschmerzen und würden nicht zur
Wahl gehen.
So fühlen sich selbst leichtlebige
und sinnenfrohe Menschen wie Journalisten am Wahlsonntag von
der Verantwortung niedergedrückt. Alle Porträts sind geschrieben,
alle Wahlprogramme seziert. Ausgewrungen und erschöpft kuscheln
sich die Redakteuere in ihre elektropneumatischen Sessel und
lassen die Fingerknöchel knacken. Was noch schreiben? Das Memento
ihrer Chefs gellten noch in ihren Ohren: "Schreib irgendwas,
aber bloss nix Politisches!"
Was ist
unpolitisch? Erotik? Geht nicht, da wird sofort wieder die Frauenfrage
angeschnitten oder das Machohafte in den Augenbrauen von Schröder.
Wetter? Da haben wir sofort die Frage: "Bei welchem
Wetter gehen welche Wähler zur Wahl?" Man sieht
förmlich die Sozialdemokraten gegen den Sturm und Wetter ankämpfend
ins Wahllokal strömen, wo sie ihre nassen Kunstlederjacken ausschütteln.
Die Konserativen fahren geräuschlos in ihren geheizten Mittelklasseautos
vor. Die Linken sitzen schon seit Stunden in der Kneipe und
trinken auf den Untergang des Kapitalismus. Aber das ist schon
wieder viel zu politisch.
 Dabei
wäre es fazinierend, die grossen Wählerwanderschaften
(siehe Bild) zu beobachten. Endlose Menschenzüge, die auf der
Suche nach ihrer politischen Heimat durchs Land irren. An einem
Tag verlockt vom Geist des Liberalismus, dann wieder die Solidarität
der Werkstätigen entdeckend, landen sie irgendwann im Niemandsland
zwischen zwei Autrobahnzubringern. Entscheidend ist, welche
Partei am schnellsten ihre Ortsgruppe in Gang setzt, um die
Wanderwähler mit heissem Kakao zu versorgen und zur Stimmabgabe
zu nötigen.
So wie die Wechselwähler lässt
auch der Journalist seine Gedanken frei wandern. Sinniert über
die Vorzüge der Rechten und Linken, Mittigen und Extremen. Später,
wenn er in seinem Pneumatiksessel eingenickt ist, träumt er
von seiner Karriere bei einem Magazin für Angelbedarf. |