Das
neue Jahr hat begonnen. Es begann, wie neue Jahre halt so
beginnen: Mit Schneeregen und traurigen Strassenbahnen, in denen
die letzten Promille der Silvesterfeiern nach Hause geschaufelt
werden (siehe Bild).

Was bringt 2005? Nun, wie jedes Jahr
steht auch dieses in der Tradition des Vorjahres. Es wird also
keinen neuen Papst geben, aber einige Wahlen, die verloren,
gewonnen und analysiert werden ("Können wir noch einmal
die Wählerwanderung der 34- bis 45-jährigen berufstätigen Frauen
in Städten mit ungerader Postleitzahl einblenden?").
Für die Vorgänge des Lebens, der Politik und der Liebe wird
wieder das Bild der Schaukel herhalten müssen. Einem Auf wird
ein Ab folgen, Zunahmen werden umgehend vom Schwund an anderer
Stelle beantwortet. Diese Schwingung wird Deutschland auch 2005
jene tranceartig Gelassenheit schenken, für die uns die ganze
Welt bewundert.
Am Anfang des Jahres könnten
Analysten, Wirtschaftsweise und Trendforscher rückblickend
sagen, dass sie sich fast immer geirrt haben. Sie tun das aber
nicht, sondern blicken mutig nach vorne. Das sollten die Deutschen
auch tun, sagt die Politik. Das Volk folgt aber eher einer Seitwärtsbewegung.
Das heisst, sie blicken mutig hinüber zu ihren Nachbarn, dem
es noch schlechter geht. In vielen Labors und Gewächshäusern
wird an einer Verbesserung des Konsumklimas gearbeitet werden.
Sollte dies 2005 gelingen, ist Deutschland gerettet. Doch die
Armeen von Konsumenten stehen bisher nur auf dem Papier.
Auch
imm neuen Jahr werden Visionen gefragt sein. Visionen
findet man Gott sei Dank recht preisgünstig in jedem gut sortierten
Baumarkt. Leitartikler, Politiker und Professoren werden wie
im alten Jahr zur Bescheidenheit mahnen, dafür aber noch mehr
Worte verbrauchen. Wörter wie Wellness-Oasen, Lohnnebenkosten
und Reformbemühungen werden im Zuge neuer Reformbemühungen
leider nicht verboten.
Auch im neuen Jahr
werden Menschen zueinander finden, zweisam das Glück suchen
und kurz darauf feststellen, dass die Realität nicht ihrer Vision
standhält. Dennoch wird es zu Geburten kommen, die in
der Öffentlichkeit auf viel Anteilnahme stossen. Der Trend zum
späteren Tod hält unterdessen an. Die Politik muss dies tolerieren,
fordert aber als Gegenleistung mehr Gesundheit. Der Blutdruck
des gesamten Bevölkerung sinkt deshalb um voraussichtlich mehr
als zehn Prozentpunkte.
Den Sommer 2005
wird man daran erkennen, dass es in die Biergläser hineinregnet,
was aber meteorologisch betrachtet schon immer so war. Ab September
wird die Politik kraftvoll darangehen, ihre Visionen endgültig
zu vergessen. Am Ende des Jahres gilt es, Ballast abzuwerfen,
das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und beides links liegen
zu lassen. Es werden Menschen des Jahres, Wörter des Jahres,
Bilder des Jahres gekürt und neue Visionen entworfen werden.
Auch
unsere Wissenschaftsredaktion hat ihre Visionen für 2005
schon aufgeschrieben, in einem Tresor eingeschlossen, den Schlüssel
aber versehentlich links liegen gelassen. Wir könnten sie aber
aus dem Gedächtnis noch einmal zusammenschreiben. Grundsätzlich
scheint es uns aber sinnvoll, Visionen erst am Ende des laufenden
Jahres zu veröffentlichen. |