Dinge, so oder so

 

Die Dinge der Woche (15. August 2004)
  

  Eine Reise durch Deutschland glich schon früher dem Streifzug durch das Kabinett eines Nervenarztes. Selten aber traten die psychischen Untiefen des Volkskörpers so glänzend zu Tage wie in der vergangenen Woche. Die Wissenschaft kennt das Phänomen aus der Landwirtschaft: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis.

  Politikmedizinisch ausgedrückt fürchten die Deutschen also nichts mehr als Langweile  und Berechenbarkeit. Dagegen schätzen sie ein Klima der Hysterie, das den Alltag farbig und spannend macht. Lag während der Kohl-Ära noch bleiernde Stabilität und irdene Schwere über dem Land, ist jetzt Musik drin. Der Esel tanzt, die Nerven flattern. Endlich.

  Wie es dazu kommt, ist umstritten. Die ältesten Beschreibungen der Hysterie finden sich in ägyptischen Fragmenten. Hysterie wurde als Veränderung der Postition der Gebärmutter gesehen, welche, durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach Befriedigung durch den Körper reist und andere Organe in Unordnung bringt.

  Wendet man diese Theorie auf die Debatte um die Rechtschreibreform an, müsste man annehmen, dass "FAZ", "Spiegel" und Springer ein Problem mit erotischer Unterbeschäftigung haben. Für Frankfurt erscheint das plausibel, doch wurden diese Verkrampfungen bisher pfeilgrad in das Feuilleton hineinsublimiert. Beim "Spiegel" dagegen: Ein reitender Chefredakteur, blutjunge Karrierejournalistinnen! Und erst die "Bild"-Zeitung mit ihrem Eis schleckenden Blumenverkäuferinnen, Bikini verweigernden Rechtsanwaltsgehilfinnen! Da müsste doch in Sachen Erotik ...

  Na ja, vieleicht stimmt die Theorie ja gar nicht. Zwanghaft umherirrende Gebärmütter wurden nämlich auch bei den aktuellen Montagsdemonstrationen nicht gesichtet. Muskelzuckungen, "leidenschaftliche Stellungen und Gebärden", die nach dem berühmten Arzt Charcot (19. Jahrhundert) die Hysterie begleiten, traten dagegen gehäuft auf. Erst recht jene Schreckensvisionen, die laut Charcot zum "abschliessenden Wahnstadium" (Delirium) führen.

  Egal, Journalisten und Demonstranten, die romantisch gegen die Realität aufbegehren, haben unsere Sympatie - ob sie mit grosser Gebärde das scharfe Doppel-s zertrümmern oder ihre hungernden Kinder vor das Kanzleramt legen. Charcot glaubte noch, man könne die Betroffenen mit Hypnose beruhigen. Aber die Deutschen starren ohnehin wie hypnotisiert auf die Zukunft, von der sie sich das Schlechteste versprechen.

  Und mal ehrlich: Wir wollen uns nicht beruhigen! Viel lieber lassen wir uns in fiebrigen Aufwallungen durch das Leben treiben, schreiben aus Trotz ALLES GROSS (oder klein?) und demonstrieren gegen das Wetter. Wie, SIe finden das hysterisch? Wenn schon!

 

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