Eine
Reise durch Deutschland glich schon früher dem Streifzug
durch das Kabinett eines Nervenarztes. Selten aber traten die
psychischen Untiefen des Volkskörpers so glänzend zu Tage wie
in der vergangenen Woche. Die Wissenschaft kennt das Phänomen
aus der Landwirtschaft: Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht
er aufs Eis.
Politikmedizinisch ausgedrückt
fürchten die Deutschen also nichts mehr als Langweile und
Berechenbarkeit. Dagegen schätzen sie ein Klima der Hysterie,
das den Alltag farbig und spannend macht. Lag während der Kohl-Ära
noch bleiernde Stabilität und irdene Schwere über dem Land,
ist jetzt Musik drin. Der Esel tanzt, die Nerven flattern. Endlich.
Wie
es dazu kommt, ist umstritten. Die ältesten Beschreibungen der
Hysterie finden sich in ägyptischen Fragmenten. Hysterie wurde
als Veränderung der Postition der Gebärmutter gesehen, welche,
durch sexuelle Abstinenz hungrig geworden, auf der Suche nach
Befriedigung durch den Körper reist und andere Organe in Unordnung
bringt.
Wendet man diese Theorie auf die
Debatte um die Rechtschreibreform an, müsste man annehmen, dass
"FAZ", "Spiegel" und Springer ein Problem
mit erotischer Unterbeschäftigung haben. Für Frankfurt erscheint
das plausibel, doch wurden diese Verkrampfungen bisher pfeilgrad
in das Feuilleton hineinsublimiert. Beim "Spiegel"
dagegen: Ein reitender Chefredakteur, blutjunge Karrierejournalistinnen!
Und erst die "Bild"-Zeitung mit ihrem Eis schleckenden
Blumenverkäuferinnen, Bikini verweigernden Rechtsanwaltsgehilfinnen!
Da müsste doch in Sachen Erotik ...
Na ja,
vieleicht stimmt die Theorie ja gar nicht. Zwanghaft umherirrende
Gebärmütter wurden nämlich auch bei den aktuellen Montagsdemonstrationen
nicht gesichtet. Muskelzuckungen, "leidenschaftliche Stellungen
und Gebärden", die nach dem berühmten Arzt Charcot (19.
Jahrhundert) die Hysterie begleiten, traten dagegen gehäuft
auf. Erst recht jene Schreckensvisionen, die laut Charcot zum
"abschliessenden Wahnstadium" (Delirium) führen.
Egal,
Journalisten und Demonstranten, die romantisch gegen die Realität
aufbegehren, haben unsere Sympatie - ob sie mit grosser Gebärde
das scharfe Doppel-s zertrümmern oder ihre hungernden Kinder
vor das Kanzleramt legen. Charcot glaubte noch, man könne die
Betroffenen mit Hypnose beruhigen. Aber die Deutschen starren
ohnehin wie hypnotisiert auf die Zukunft, von der sie sich
das Schlechteste versprechen.
Und mal ehrlich:
Wir wollen uns nicht beruhigen! Viel lieber lassen wir
uns in fiebrigen Aufwallungen durch das Leben treiben, schreiben
aus Trotz ALLES GROSS (oder klein?) und demonstrieren gegen
das Wetter. Wie, SIe finden das hysterisch? Wenn schon! |